Nachbarschaftliche Solidarität in der Krise?

Die Frage nach transformativem Potenzial von Nachbarschaftshilfe am Beispiel einer aktivistischen Fallstudie im Leipziger Osten

Leon Rosa Reichle

Der folgende Beitrag ist ein Plädoyer dafür, kritische Forschung zur aktuellen Coronakrise für praktische Intervention einzusetzen. Am Beispiel einer Fallstudie in Leipzig und dem Leipziger Osten wird ein solcher Versuch anhand der Beobachtung von Corona Nachbarschaftshilfe, ihrer kritischen Reflexion und der Frage nach ihrer transformativen Anschlussfähigkeit nacherzählt. Dafür untersuche ich Interviews mit Nachbarschaftsinitiativen und Mieter:innen auf urbane Beziehungsweisen und Trennungen und berichte von aktivistischen Interventionsversuchen. Schließlich plädiere ich im Sinne kritischer Forschung für ein situiertes Alltagsverständnis, welches sich nicht in optimistische vs. pessimistische Analysen auflöst, sondern Ansatzpunkte für aktives Einmischen sucht.

Seit Beginn der Coronakrise streiten sich Linke (Intellektuelle) darüber, ob die Pandemie eine unausweichliche Verschlimmerung des Status Quo, oder die Chance auf neue, gar emanzipatorische politische Alternativen bedeutet. In einer akademischen Zoom-Konferenz zu dieser Frage sprach mir Niki Kubaczek kürzlich aus der Seele. Mit Gramscis (bzw. Rollands) „Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens“[1] plädierte er gegen die anhaltenden Versuche linker Zeitdiagnostiker, ihre Analysen in politischen Optimismus oder Pessimismus aufzulösen. Das heißt nicht, dass kritische Beiträge, die auf immer neue Abgründe kapitalistischer Herrschaftsverhältnisse hinweisen, nicht gut und wichtig sind. Diese gehören zur Aufgabe linker Wissenschaft.[2] Darüber hinaus stellt sich mir jedoch auch die Frage, ob und wie man diese kritischen Analysen in praktische Transformationsversuche umsetzten könnte.

Mitten in meiner Promotionsforschung zu Mieter:innenbeziehungen in urbanen Restrukturierungsprozessen im Leipziger Osten fiel es mir beim Beginn von COVID-19 nicht schwer die Verschärfung sozialer Prozesse zu erkennen. Nicht nur beobachtete ich, wie so viele, die teils fatalen, ungleichen Konsequenzen sozialer Distanzierung und Ausgangsregelungen, die auch im Corona Monitor vielfach belegt sind. Auch befand ich mich mitten in einer Analyse lokaler Beziehungsweisen und Trennungen.[3] Als ich Zeuge zahlreicher aufploppender Hilfsinitiativen und ihrer Hilflosigkeit wurde, warf ich kurzerhand meine Prämisse, Dissertation und Aktivismus auseinanderzuhalten, über den Haufen. Ich entschied mich die vielen Gedanken, mein wachsendes Wissen, irgendwie produktiv einzubringen.

Vor diesem Hintergrund soll der Beitrag eine Diskussionsgrundlage für weitere kollektive Denkprozesse zu transformativem Stadtteil-Organizing[4] während Corona in Leipzig und über beides hinaus liefern. Zu diesem Zweck werden verschiedene Verständnisse von Solidarität in der Nachbarschaftshilfe kritisch auf ihren politischen Hintergrund untersucht. Dafür schildere ich eingangs den sozialräumlichen Kontext des Leipziger Ostens, berichte von meinem empirischen (und aktivistischen) Vorgehen, gehe kritisch auf verschiedene praktische Solidaritätsverständnisse in der Leipziger Corona-Nachbarschaftshilfe ein und diskutiere ihr transformatives Anknüpfungspotenzial. Schließlich gebe ich einen Ausblick auf die Einbettung solch alltäglicher Praxis in einem breiteren gesellschaftlichen, pandemischen Szenario.

Entfremdetes Wohnen im Leipziger Osten

Im inneren Leipziger Osten grenzen die Viertel Neustadt Neuschönefeld und Volkmarsdorf die sagenumwobene Eisenbahnstraße[5] ein. Aktuell sind diese ein Prisma für Leipzigs urbane Restrukturierungsprozesse, die mit rasantem Wachstum (bevölkerungs- und investitionstechnisch) nach langer Schrumpfung einhergehen. Hier wohnen viele, die historisch und gegenwärtig anderswo keinen Platz gefunden haben, es „nicht geschafft haben, zu gehen“[6] oder im scheinbar leeren Raum etwas „neues aufbauen“ wollen. Das sind wie in wohl keinem anderen Viertel in Sachsen schon lange Menschen mit Migrationsgeschichten, DDR-Sozialisierte, die keinem Job hinterhergezogen sind, und seit knappen zehn Jahren (häufig westsozialisierte) Studierende und Studierte. Sie alle sind verbunden durch ihren Status als Mieter:in und zunehmende Erfahrungen von residentieller Entfremdung bzw. Wohnentfremdung in Wohnung und Nachbarschaft. Dieses Konzept von Madden und Marcuse verbindet kapitalistische Stadtentwicklung mit Alltagserfahrungen von Mieter:innen und bezeichnet allgemein alles, „was passiert, wenn eine Kapitalistenklasse die Wohnungsversorgung vereinnahmt und sie zu ihren eigenen Zwecken ausbeutet“ [7]. In Wohnungen im Leipziger Osten, wie anderswo, zeigt sich das an der Vernachlässigung von Wohnraum zur Kostenvermeidung für Vermieter:innen, neben der überteuerten Aufwertung auf Kosten der Bewohner:innen. Im Viertel geht diese parallele Auf- und Abwertung einher mit (rassistischer) Stigmatisierung der Eisenbahnstraße bei steigenden Immobilienpreisen und Mieten. Trotz potenziell verbindender Erfahrungen im gleichzeitig ab- und aufgewerteten Viertel und dem gemeinsamen Interesse an bezahlbarem Wohnraum sind die Bewohner:innen durch Sprachbarrieren, Rassismen, grundverschiedene biographische Bezugspunkte und unterschiedliche Lebensrealitäten, Fluktuation, Rückzug und Anonymisierung, Scham und Abgrenzung voneinander getrennt. Ohne der politischen Ausweglosigkeit seiner Analyse zuzustimmen, könnte man mit Wacquant von fortgeschrittener Marginalisierung sprechen.[8]

Als im März 2020 auch Leipzig und der Leipziger Osten von COVID-19 und den damit einhergehenden staatlichen Regularien erreicht wurde, entstanden vor diesen Hintergründen plötzlich Bemühungen um verbindende, nachbarschaftliche Solidarität. In Anbetracht der bestehenden von mir beobachteten Trennungen im Viertel und der polarisierenden und stratifizierten Auswirkungen des Virus und der Regularien, [9] erschienen mir diese jedoch unwahrscheinlich und wenig erfolgsversprechend. Zudem vermutete ich stark divergierende Verständnisse von Solidarität, [10] in einer Zeit, in der selbst Führungspersonen der CDU diese beschworen.[11] Ich beschloss zunächst, sie wissenschaftlich zu begleiten, und schließlich längerfristig zu intervenieren.

Anfängliche teilnehmende Beobachtungen in neu entstehenden Chatgruppen von (hauptsächlich) jungen Akademiker:innen voller Ideen zu Nachbarschaftshilfe bestätigten mich in der Annahme, dass ihre Versuche bestehende Trennungen im Viertel kaum überwinden konnten. Nichtsdestotrotz fand ich das plötzlich so gesteigerte Interesse an den eigenen Nachbar:innen bemerkenswert und vielversprechend. Ich fragte mich, welches Potenzial diese Dynamik haben könnte, bestehende Beziehungsweisen im Viertel zu verändern, nachhaltige Solidaritäten zwischen Mieter:innen ins Leben zu rufen und langfristig gar politisch auf die entfremdenden Verhältnisse einzuwirken. Mit diesen Fragen im Kopf führte ich zusammen mit Micha Fiedlschuster sechs Interviews mit verschiedenen Corona-Hilfsinitiativen in Leipzig,[12] passte meine Leitfäden für die jetzt telefonisch stattfindenden Mieter:inneninterviews an die Situation an und führte viele Gespräche mit befreundeten Aktivist:innen, die in die Gründung eines Nachbarschaftsrates mündeten.

Solidarität zwischen Status-quo Erhaltung und radikaler Transformation

In den Interviews mit stadtweiten Nachbarschaftshilfeinitiativen kristallisierten sich drei Auffassungen von Solidarität heraus. Die analytische Kategorisierung anhand der sozialwissenschaftlich diskutierten Konzepte von Solidarität auf der Basis geteilter Identität[13], Solidarität als moralische Verpflichtung[14] und Solidarität als Form politischer Praxis[15] stellte insbesondere die unterschiedlichen Transformationshorizonte[16] der Initiativen heraus.

Während sich eine geteilte Identität als Basis der interviewten Solidaritätsinitiativen, wie am Beispiel des Rechtshilfekollektivs des Fußballvereins BSG Chemie, keineswegs in ausschließender Solidarität niederschlug, war die sozialräumliche Aufteilung der verschiedenen Solidaritätsverständnisse interessant. Interviewpartner aus der Initiative Nachbarn für Nachbarn aus dem wohlhabenden Leipziger Südwesten (Schleußig) sprachen sich explizit gegen ein politisches oder gar linkes Solidaritätsverständnis aus und verwiesen stattdessen auf Nächstenhilfe und Rücksichtnahme als Hintergründe ihrer Arbeit. Ihre moralische Verpflichtung sahen sie (zeitlich) explizit auf Corona begrenzt. Im Gegensatz dazu verfolgt die recht professionalisierte Stiftung Ecken Wecken aus dem in der letzten Dekade rasant aufgewerteten inneren Leipziger Westen (Plagwitz) einen längerfristig politischen Ansatz. Dieser kennzeichnet sich nach unserer Analyse durch einen „kollaborativen Ansatz mit lokalen Politikern […] und ist in der Tradition von reformistischem Community Organizing zu verorten“ [17]. Statt radikaler Kritik baut er auf Ausweitung von Partizipationsmöglichkeiten und moderate Veränderung. Im eingangs beschriebenen Leipziger Osten hingegen fanden sich zwei Initiativen mit radikaler Transformationsperspektive. Die Initiatoren der Telegramgruppe Leipzig Ost Solidarisch sowie eine Aktivistin der Poliklinik Leipzig verstanden ihre nachbarschaftliche Solidarität als politische Praxis gegen wahrgenommene gesellschaftliche Ungerechtigkeiten. Während die Telegramgruppe sich explizit zum Austausch über mögliche Nachbarschaftshilfe gründete, steht die Corona AG der Poliklinik im Zeichen ihres allgemeinen politischen Ansatzes: solidarische Nachbarschaftshilfe fördern, um Leute selbst zu ermächtigen […]. Und dahingehend wollen wir Strukturen aufbauen und gleichzeitig auch ‘ne Kritik üben. Denn gerade machen wir Arbeit, die eigentlich vom Staat gemacht werden sollte.“ Ähnlich möchte die stadtweite Initiative direct support auch „über die Coronakrise hinaus […] solidarische Netzwerke etablieren“, um materielle Ressourcen umzuverteilen.

Diese unterschiedlichen Motivationen der Nachbarschaftshilfe weisen auf verschiedene politische Zielstellungen hin. Während die Nachbarschaftshilfe aus dem wohlhabenden Schleußig den gesellschaftlichen Status quo, der durch COVID-19 für viele verschärft wird, nicht in Frage stellt, möchte die Stiftung aus Plagwitz die bestehende Ordnung etwas verändern und sozusagen mehr Stühle am vermeintlich runden Tisch anbringen. Die Initiativen aus dem Leipziger Osten (Eisenbahnstraße und Schönefeld) sowie das stadtweite Umverteilungsnetzwerk hingegen wollen einen Beziehungsaufbau fördern, der Trennungen des neoliberalen Kapitalismus radikal in Frage stellt und mindestens auf lokaler Ebene beginnt sie umzukrempeln.

Letztere Ansätze sind anschlussfähig für Versuche des transformativen Stadtteil-Organizings. Anders als partizipative Ansätze stellen radikalere Organisierungsformen die Grundprinzipien kapitalistischer Vergesellschaftung in Frage,[18] was im städtischen Raum beispielsweise anhand der Wohnungsfrage[19] geschehen kann. Gleichzeitig zielen solche radikaleren Organizing-Versuche auf die Selbstorganisierung von Betroffenen, die im besten Fall über Selbsthilfe hinaus emanzipatorisch angelegt sind und darüber hinaus den solidarischen Beziehungsaufbau anstreben. .[20] Auf verschiedene Arten kann so beispielsweise die Eigentumsfrage der Stadt, der Wohnung und des öffentlichen Raums gestellt werden, die stets darauf verweist, wie wir zusammen leben wollen, „welche sozialen Beziehungen wir […] uns wünschen“,[21] wie wir uns und unsere Gesellschaft reproduzieren.

Das Problem der Trägheit gesellschaftlicher Trennungen

Leider verbindet jedoch alle befragten Nachbarschaftsinitiativen ihre begrenzte Reichweite. Was bei einigen großen Frust auslöste, ermutigte andere „zu hinterfragen, wie politische Arbeit die Zielgruppen besser erreichen kann, auf die sie bezogen sein soll“. Der Eindruck, dass bestehende Trennungen, häufig beschriebene „Blasen“, auch in unmittelbarer Nachbar:innenschaft nicht überwunden werden, bestätigte sich. Die hoffnungsvolle Vermutung verschiedener Interviewpartner:innen, dass die niedrige Inanspruchnahme der Nachbarschafshilfe an geringen Bedarf gekoppelt sei, bestätigte sich in Telefoninterviews mit insbesondere älteren Mieter:innen des Leipziger Ostens nur teilweise. Manche von ihnen stuften sich tatsächlich nicht als hilfsbedürftig ein. Mehrere hatten bereits Unterstützung von Familie, Pflegedienst oder der Hausgemeinschaft. Für andere war der Gedanke von gegenseitiger Hilfe fast absurd, sie wollten niemandem zur Last fallen. Darüber hinaus gab es manche, die von den Hilfsangeboten nichts wussten, skeptisch bis isoliert und verunsichert waren. Ihre Isolation war teils durch Sprachbarrieren, aber auch einen völlig anderen Zugang zu Kommunikationsmedien und zurückgezogenen Lebensstilen geprägt.

Um den Bogen zum Anfang zu schließen: Die Trägheit und Durchsetzung bestehender Trennungen, ihre schwierige Überwindbarkeit, deutet auf eine pessimistische Interpretation der Coronakrise bezüglich solidarischer lokaler Beziehungsweisen hin. Eingebettet in eine kritische, breitere Forschung zu nachbarschaftlichen Beziehungen können diese jedoch differenziert interpretiert werden. Bestenfalls kann damit eine Intervention verknüpft werden.

Beziehungsaufbau als Intervention

Mit diesem Ziel begann ich im März, mich mit Freund:innen und Aktivist:innen in der Nachbarschaft zu unterhalten. Wir sprachen über meine Beobachtungen und Kritik, Erkenntnisse aus Interviews und vorhergegangener Forschung, sowie ihre Erfahrungen und Gedanken zur Nachbarschaft während COVID-19. Die informellen Gespräche führten zu einer halböffentlichen Diskussionsveranstaltung[22]. Es entstand eine Vernetzung zwischen Interessierten und Personen aus verschiedenen Initiativen wie einer Mietergemeinschaft, einem Nachbarschaftszentrum und einem Beratungszentrum in Planung. Neben der Diagnose der Corona-Krise für nachbarschaftliches Organizing (unterschiedlicher Zugang zu Kommunikationsmedien, Ausfall von Veranstaltungen, fehlende gemeinsame Erfahrungen) und differenzierter Kritik an bestehenden Solidaritätspraxen entstanden jedoch auch Ideen zum Umgang mit der Situation.

Das alles verbindende Hauptproblem bestehender Trennungen bzw. nicht existenter Beziehungen – „das Kennenlernen“ – bestand für alle gleichermaßen, das Potenzial der Situation wurde unterschiedlich gesehen. Manche plädierten für eine kritische Aufarbeitung nach der Krise, andere sahen auch eher moralisch motivierte Hilfsangebote als potenziellen ersten Schritt zu einem entstehenden Solidaritätsverständnis. Am verbindlichsten blieb die Idee, die verschiedenen außergewöhnlichen Ansätze und Versuche des solidarischen Beziehungsaufbaus kritisch zu reflektieren, zu unterstützen und zu verstetigen.

Das mündete einerseits in eine kleine Intervention in verschiedenen Chatgruppen. Es wurde das Problem fehlender solidarischer Beziehungsweisen benannt, die Versuche diese aufzubauen ermutigt und dafür verschiedene längerfristige Initiativen im Leipziger Osten mit Kontaktdaten aufgeführt. Damit und mit wiederkehrenden Treffen verstetigte sich zugleich ein kleiner „Nachbarschaftsrat“. Bisher wird er für Erfahrungsaustausch über Projekte, eine kritische Reflexion dieser und gemeinsames Rumdenken an all den Problemen genutzt, die in der alltäglichen Nachbarschaftsarbeit entstehen. Auch wenn dieses Projekt in seiner frühen Phase noch schwer einzuordnen ist, sind die derzeitigen Ziele zweierlei: Einerseits soll ein Beziehungsaufbau zwischen verschiedenen radikal-transformatorischen Organizing-Initiativen gefördert werden, andererseits sollen bestehende Ansätze der gegenseitigen Hilfe hinterfragt und möglicherweise anschlussfähig für einen nachhaltig transformatorischen Beziehungsaufbau im Viertel gemacht werden.

Zwar können und sollen solche Projekte auf nachbarschaftlicher Ebene nicht die bereits bestehenden und vorherzusehenden sozialen, politischen und ökonomischen Folgen der Coronakrise in den Schatten stellen. Wie eine Interviewpartnerin aus der Poliklinik treffend sagt: „Grundlegend machen wir das, damit es nicht so ein ungleiches System gibt, wo Verantwortung auf Einzelne abgeladen ist, das wollen wir verändern, natürlich im Kleinen, das System schaffen wir leider nicht (lacht)“. Jedoch darf der lokale Alltag und die darin entstehenden Veränderungen bei einer Analyse des Allgemeinen nicht außer Acht gelassen werden. Stattdessen müssen diese „in einem situierten Verständnis des Alltags verankert sein, und die alltägliche Praxis verstanden werden, als intrinsisch verbunden mit und konstitutiv für das Globale, das Abstrakte“[23]. Es sind Beziehungen und ihre Gleichzeitigkeit im Alltag und auf struktureller Ebene, die eine solche Verbindung schaffen,[24] sowohl theoretisch als auch in der Praxis. Deswegen ist sowohl eine genaue und kritische Betrachtung dieser als auch ein praktisches Ansetzen an ihnen notwendig, für eine transformative Praxis, die nicht nur die Krise sieht, sondern auch versucht in sie zu intervenieren.

Spannungsfelder aushalten und sich in sie einmischen

Die Erkenntnis, dass sich gesellschaftliche Spaltungen während der Coronakrise in einem ohnehin von Ungleichheit und Marginalisierung geprägten Stadtviertel vertiefen, soll nicht durch eine Romantisierung nachbarschaftlicher Solidarität aufgehoben werden. Stattdessen wurde Letztere in diesem Beitrag kritisch auf ihre unterschiedlichen Transformationspotenziale untersucht. Dabei zeigten sich zwar unterschiedlich radikale und, aus emanzipatorischer Sicht, produktive Zielsetzungen. Jedoch müssen auch die transformativsten Ansätze sich in einem praktischen Spannungsfeld entstehender solidarischer Beziehungsweisen und vorhandener schwerfälliger Trennungen behaupten. Anhand einer experimentellen Intervention habe ich schließlich versucht, dieses Spannungsfeld nicht nur auszuhalten, sondern mich praktisch einzumischen, im Sinne eines solidarischen Beziehungsaufbaus. Inwieweit dieser praktisch im lokalen Alltag verhangen bleibt, oder einen (nicht rein theoretischen) Ausblick auf gesellschaftliche Strukturen und ihre mögliche Veränderbarkeit ermöglicht, wird sich noch zeigen.

Quellen und Verweise:

[1] Gramsci, Antonio. 1980. Zur Politik, Geschichte Und Kultur. Leipzig: Phillip Reclam jun: S. 52, ff.

[2] Eine gute Zusammenfassung solcher bzgl. aktueller Krisen: Mullis, Daniel. 2020. “Mit der Corona-Krise in eine autoritär-individualistische Zukunft? Fünf Dimensionen gesellschaftlicher Transformation – Corona Monitor.” April 21, 2020. https://coronamonitor.noblogs.org/2020/04/21/mit-der-corona-krise-in-eine-autoritaer-individualistische-zukunft-fuenf-dimensionen-gesellschaftlicher-transformation/.

[3] Zu den Konzepten von Beziehungen und Trennungen vgl. Adamczak, Bini. 2017. Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 Und Kommende. Berlin: edition suhrkamp. & Donati, Pierpaolo, and Margaret S Archer. 2015. The Relational Subject. Cambridge: Cambridge University Press.

[4] Vgl. Maruschke, Robert. 2014. Community Organizing: Zwischen Revolution und Herrschaftssicherung – Eine kritische Einführung. 1., Originalausgabe. Münster: edition assemblage.

[5] Ein Projekt, was sich der medialen Stigmatisierung der Eisenbahnstraße entgegensetzt, ist die Zeitung Gefährlicher Gegenstand: Eisenbahnstraße: https://unofficial.pictures/release/dangerous/

[6] Alle kursiven, ungekennzeichneten Zitationen stammen aus Interviews meiner Forschung.

[7] Madden, David, and Peter Marcuse. 2016. In Defence of Housing: The Politics of Crisis. London/NY: Verso: S. 56

[8] Vgl. Wacquant, Loïc. 2008. “Territorial Stigmatization in the Age of Advanced Marginality.” Symbolic Power in Cultural Contexts, January, S. 43–52.

[9] Vgl. Reichle, Leon Rosa. 2020. “Researching Tenants’ Relations in a State of Emergency – Relational Polarization and Its Challenges for Research.” Centre for Urban Research on Austerity (blog). May 26, 2020. https://cura.our.dmu.ac.uk/2020/05/26/my-phd-fieldwork-was-interrupted-by-a-pandemic-or-researching-relations-through-relations-in-a-period-of-relational-polarization/.

[10] Vgl. Nuss, Sabine. 2020. “Unsere Vernunft, Unser Herz Füreinander.” Rosa Luxemburg Stiftung (blog). March 2020. https://www.rosalux.de/news/id/41763/.

[11] Z.B. in Angela Merkels Ansprache vom 18.03.2020: https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/ansprache-der-kanzlerin-1732108

[12] Vgl. Fiedlschuster, Micha, and Leon Rosa Reichle. 2020. “Solidarity Forever? Performing Mutual Aid in Leipzig, Germany.” Interface: A Journal for and about Social Movements 12: S. 317–25.

[13] Vgl. Bargetz, Brigitte, Alexandra Scheele, and Silke Schneider. 2019. “Impulse aus dem feministischen Archiv: Zur Theoretisierung umkämpfter Solidaritäten.” theorieblog.de (blog). November 19, 2019. https://www.theorieblog.de/index.php/2019/11/impulse-aus-dem-feministischen-archiv-zur-theoretisierung-umkaempfter-solidaritaeten/.

[14] Vgl. August, Vincent. 2020. “Gegen Solidarität! Zwei Modelle sozialen Zusammenhalts und die Corona-Krise.” theorieblog.de (blog). April 23, 2020. https://www.theorieblog.de/index.php/2020/04/gegen-solidaritaet-zwei-modelle-sozialen-zusammenhalts-und-die-corona-krise/.

[15] Vgl. Featherstone, David. 2012. Solidarity: Hidden Histories and Geographies of Internationalism. London: Zed Books.

[16] Vgl. Archer, Margaret S. 2019. “Critical Realism and Concrete Utopias.” Journal of Critical Realism, May, S. 1–19.

[17] Fiedlschuster, Micha, and Leon Rosa Reichle. 2020. “Solidarity Forever? Performing Mutual Aid in Leipzig, Germany.” Interface: A Journal for and about Social Movements 12: S. 321, Übersetzung d. Autor/in.

[18] Vgl. Maruschke, 2014, s.o.

[19] Holm, Andrej. 2012. “Wiederkehr Der Wohnungsfrage.” Aus Politik Und Zeitgeschichte 64: S. 25–30.

[20] Vgl. dazu u.a. Arampatzi, Athina. 2017. “The Spatiality of Counter-Austerity Politics in Athens, Greece: Emergent ‘Urban Solidarity Spaces.’” Urban Studies 54 (9): S. 2155–71.

[21] Harvey, David. 2008. “The Right to the City.” The Robinson Rojas Archive, S. 1.

[22] Der Link zur Veranstaltung: https://www.krisengespraeche.de/projekt4

[23] Loftus, Alex. 2018. “Planetary Concerns.” City 22 (1): S. 93., Übersetzung d. Autor/in

[24] Vgl. Adamczak, 2017, s.o.