Oben rechts #InZeitenVonCorona – Institutioneller Rassismus, exklusive Solidarität und die Pandemie

Eine Momentaufnahme aus Mecklenburg-Vorpommern

von Cindy Hader

AnkER-Zentren versinnbildlichen nicht nur Politiken der Exklusion, sondern schaffen ebenfalls Orte, an denen die Erfahrung von institutionellem Rassismus das Alltägliche prägt. Altbekannte Probleme der Massenunterbringung – rechtswidrige Praktiken, Isolation, mangelnde Gesundheitsversorgung – werden in pandemischen Zeiten wie durch ein Brennglas verschärft und offengelegt. Dieser Beitrag widmet sich zwei Lagern in Mecklenburg-Vorpommern und zeichnet in einer kurzen Chronologie nach mit welchen Aktionen Bewohner*innen und Unterstützer*innen in Zeiten von Corona bessere Unterbringungsbedingungen zu erstreiten und verschärfte Rassismen zu bekämpfen versuchen. Das Augenmerk liegt dabei nicht nur auf der medialen Repräsentation migrantischer Kämpfe, sondern auch auf den Auswirkungen staatlicher Pandemie-Bekämpfung auf die solidarische Praxis.

Selbst routinierten Wegschauer*innen wird es in den letzten Monaten schwergefallen sein, eine wesentliche Einsicht zu ignorieren: SARS-CoV-2 – ein und dasselbe Virus, das Menschen in 188 Ländern[i] dieser Welt betrifft – ist mitnichten der große Gleichmacher, sondern vielmehr ein Katalysator, der bestehende Systeme der Ausbeutung, Ausgrenzung und des Rassismus verstärkt und soziale Ungleichheiten vertieft. Sabine Hark verweist im Deutschlandfunk Kultur auf den im Konzentrationslager Buchenwald umgekommenen Soziologen Maurice Halbwachs, der bereits 1913 Sterblichkeit und sozialen Status in Verbindung bringt: „Tod und das Alter, in dem er eintritt, sind vor allem ein Ergebnis des Lebens und der Umstände, unter denen es sich entwickelt hat.“

Auch wenn existenzielle Krisen die polemische Stimmungsmache populistischer Parteien im öffentlichen Diskurs leiser werden lassen, bedeutet dies im Umkehrschluss nicht, dass parlamentarische Pragmatiker*innen die Mechanismen institutioneller und alltäglicher Rassismen in ihren Maßnahmen zur Pandemie-Eindämmung ausreichend bedenken. Als Mitte März die Wohnung als (vermeintlich) sichere Rückzugsstätte[ii] in den Mittelpunkt der staatlichen Lösungsstrategie rückt, schließt sich sofort die Frage an: Was, wenn keine da ist? Mit der Kampagne #LeaveNoOneBehind drängen Aktivist*innen auf eine Lösung für die zehntausenden Migrant*innen in den Camps der griechischen Inseln, für die genau diese fehlenden Rückzugs- und Schutzmöglichkeiten alltägliche Realität sind.

Um das Flüchtlingslager als Schauplatz institutionellen Rassismus offenzulegen – als eine der „gesellschaftlichen Institutionen, aus denen rassistische Diskurse und Praktiken hervorgehen und mittels derer sie gefestigt werden“[iii] – genügt ein Blick in unsere Nachbarschaft, wo Erstaufnahmeeinrichtungen, Ankunfts- und AnkER-Zentren auf Basis jüngster Gesetzgebungen zu immer geschlosseneren Orten werden.[iv]

Dieser Beitrag ist eine Momentaufnahme aus der antirassistischen Solidaritätsbewegung oben rechts – in Mecklenburg-Vorpommern (MV). Er widmet sich den AnkER-Zentren Nostorf/Horst (bei Boizenburg) und Stern Buchholz (bei Schwerin)[v] und zeichnet in einer kurzen Chronologie nach mit welchen Aktionen Bewohner*innen, Unterstützer*innen und zivilgesellschaftliche Akteur*innen in Zeiten von Corona bessere Unterbringungsbedingungen zu erstreiten und verschärfte Rassismen zu bekämpfen versuchen.

März: Mediale Berichterstattung, Auslagerung infizierter Bewohner*innen und die Grenzen des Sagbaren

Während die Kernfamilie in MV Mitte März ein Revival erlebt und man sich in Innenministerium und Staatskanzlei nicht ganz einig ist, wer im Land nun wen besuchen dürfe und mit welcher guten Begründung, widmen sich Mainstream Medien und sogar lokale Blätter dem AnkER-Zentrum in Stern Buchholz. Ein seltenes Phänomen, bedenkt man die ansonsten recht bedingungslose Kapitulation gegenüber einer immer restriktiver werdenden Asyl- und Flüchtlingspolitik, die zu großen Teilen auf menschenunwürdigen Unterbringungs- und Segregationsstrategien fußt – auch vor Corona. Nachdem der Nordkurier am 13. März titelt, dass es sich beim 24. an Covid-19-Erkrankten in MV um einen jungen Mann aus dem Lager bei Schwerin handele – es gilt zu bedenken: die öffentliche Bloßstellung der konkreten Wohnadresse wäre bei nicht-kasernierten Betroffenen ein undenkbarer Eingriff in die Privatsphäre – stehen alle Bewohner*innen unter akribischer Beobachtung. Weniger auf Grund der zahlreichen Solidaritäts-Appelle, die via Fernseher allabendlich durch die Wohnzimmer schallen, sondern vielmehr, um eine potentielle Gefahrenquelle im Auge zu behalten. Dies zeigt sich nicht zuletzt im Zuge der Auslagerung infizierter Bewohner*innen: Als Mitte März das ehemalige Amt für Landwirtschaft in Parchim als ‚Notfallunterkunft‘ zur häuslichen Isolation genutzt wird, erhält der Bürgermeister der Stadt Morddrohungen. In der Parchimer Zeitung wird daraufhin nicht verhandelt, ob es von Seiten des Innenministeriums legitim sei Menschen während einer weltweiten Pandemie ohne Mitbestimmungsrecht zum Wohnen in Massenunterbringungen zu zwingen, sondern vielmehr, inwiefern die Verlagerung nach Parchim „die Stadt in neue Aufregung“ versetze. Eine Tradition bewährt sich: ausschließlich über Geflüchtete zu sprechen und niemals mit ihnen. So ist es letztendlich der Flüchtlingsrat MV – als kritisches, aber auch etabliertes, weißes Akteur*innen-Netzwerk – der die Angeklagten auf seiner Facebook-Seite freispricht: „Der Flüchtlingsrat macht nochmals darauf aufmerksam, dass die derzeit infizierten Geflüchteten gesund nach Deutschland kamen und hier Schutz suchten. Sie haben sich in Deutschland angesteckt.“

Auf Grund der Kontaktbeschränkungen fällt im März die Mahnwache aus, die die Initiative PRO BLEIBERECHT in MV (PBR) gemeinsam mit ehemaligen Bewohner*innen und überregionalen Akteur*innen seit 2018 monatlich vor dem Lager in Nostorf/Horst abhält – ein dringend notwendiger Gegenraum, der der Kontaktaufnahme und Vernetzung dient. Sie verlegen den Protest ins Digitale und starten gemeinsam mit Campact die Online-Petition Schutz vor Corona: Recht auf Abstand!. Dass Migrant*innen vermeintlich Selbstverständliches – wie das Recht auf Selbstschutz in Zeiten einer Pandemie – immer wieder erstreiten müssen, verdeutlichen einige der Leser*innenkommentare, als Zeit Online über zentrale Missstände in der Unterbringung Geflüchteter berichtet: „Hier muss man auch mal Solidarität ggü. der einheimischen Bevölkerung erwarten dürfen. Momentan müssen alle Maßnahmen gebündelt in Pandemiebekämpfung und Erhaltung der Wirtschaftsstruktur fließen, diese finanziert doch erst die großzügige Unterstützung der Geflüchteten. Wir haben gerade wirklich andere Probleme.“ Wenn Solidarität als exklusiv interpretiert und an (nationale) Identitäten gekoppelt wird, verliert sie nicht nur ihren emanzipatorischen Moment, sondern läuft Gefahr Instrument eben der Ideologie zu werden, die es immer und grundsätzlich aufzulösen gilt: die des Völkischen, Blut-und-Boden, wir gegen die.

April: Offene Briefe, Diskursverschiebung und Versammlungsrecht

„Kämpfen wir auf verlorenem Posten?“, fragt der Flüchtlingsrat in einem Facebook-Beitrag vom 2. April. Es geht um nicht eingehaltene Hygienemaßnahmen, Verunsicherung der Bewohner*innen aber auch um Hetze gegen das eigene Team und prekäre Arbeitsbedingungen für Betreuer*innen in den Lagern. Da der Zugang zu den Einrichtungen in MV stark reglementiert ist,  erhalten sie ihre Informationen anonym von Bewohner*innen und Mitarbeitenden; letztere äußern sich aktuell auch vermehrt gegenüber Pressevertreter*innen. Unter dem Titel Nichts soll nach draußen dringen – Inside Stern Buchholz versucht sich die Schweriner Volkszeitung am investigativen Journalismus und scheitert. An Stelle einer Auseinandersetzung mit der grundsätzlichen Widersprüchlichkeit Sozialer Arbeit im Lager – Ermächtigung innerhalb eines entrechtenden Systems – und den Ausbeutungs- und Abhängigkeitsmechanismen im Arbeitsalltag des Einrichtungsbetriebs – 12-Stunden-Wechselschichten, permanent hoher Krankenstand, Schweigeverpflichtung – tritt erneut ein sensationshungriges Narrativ vom Lager als Ort der Un-Ordnung, der noch mehr Reglementierungen bedarf.

Migration bleibt politisch umkämpft und emotional aufgeladen. Das spüren in erster Linie Geflüchtete selbst, aber auch viele Sozialbetreuer*innen in den Einrichtungen. Prinzipielle Kritik am System der Massenunterbringung läuft daher Gefahr von Seiten des Betreibers als diffamierend wahrgenommen und somit auf anderer Ebene verhandelt zu werden: „Lasst euch eins gesagt sein: Eure schlecht recherchierten Artikel machen uns Mitarbeitenden den Alltag kein Stück leichter. […] Es ist eure Hetze, die dafür sorgt, dass uns der Hass entgegenschlägt. Geholfen habt ihr mir und vielen anderen mit dieser Aktion kein bisschen“, liest es sich in einem Kommentar auf der Facebook-Seite des Flüchtlingsrats.[vi] An diesen adressiert der Leiter des zuständigen Landesamtes Anfang April einen offenen Brief, der die Diskursverschiebung weiter befeuert: Im Zentrum stehen längst nicht (mehr) die Belange und Forderungen der Bewohner*innen, sondern die grundsätzliche Legitimität von zivilgesellschaftlicher Kritik an staatlichen Strukturen. Das Streiten für dezentrale Unterbringung wird pauschal als „mediale Kampagne gegen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Landesamtes für innere Verwaltung, der Malteser Werke […], des Krankenhauses Crivitz und des Gesundheitsamtes Schwerin“ deklariert, die mit „erheblicher Irritation“ zur Kenntnis genommen werde. Dabei ginge es vor allem „um die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in Stern Buchholz ihren Job machen; ihren Job gut machen.“ Zwar liest sich der Brief wie eine persönliche Kränkung, dennoch bezieht der Flüchtlingsrat in einer vierseitigen offenen Antwort Stellung, betont noch einmal, dass Mitarbeitende und Geflüchtete „diverse Missstände geschildert haben, die […] vermutlich nur zum Teil bekannt sind“ und versucht die Debatte wieder auf eine inhaltliche Ebene zu heben: Es gebe zahlreiche Handlungsmöglichkeiten und Alternativen zur Lagerunterbringung. Eine weitere (öffentliche) Antwort bleibt jedoch aus; die Diskussion verstummt. Ignoranz ist auch eine Form von Herrschaft.

PBR fordert das Wegschauen des Innenministeriums heraus und erstreitet über das Verwaltungsgericht Schwerin für den 14. April die offizielle Übergabe der Petition mit über 1.500 Unterschriften – ein wichtiger und nötiger demokratischer Impuls in Zeiten des Ausnahmezustands. Die Kontaktbeschränkungen hatten das Ordnungsamt vorab dazu veranlasst, die Versammlung komplett zu verbieten; das Gericht wiegt jedoch „zwischen […] der für eine funktionierende Demokratie grundlegenden Versammlungsfreiheit und des Schutzes von Leib und Leben der Bevölkerung“ ab und genehmigt die Übergabe mit Auflagen.

Am 15. April verschaffen sich die Bewohner*innen in Nostorf/Horst selbst Gehör, nachdem ein 28-jähriger Iraner mit hohem Fieber nicht medizinisch behandelt wird. PBR schreibt eine Pressemitteilung, die taz berichtet. Verdachtspersonen sind innerhalb des umzäunten Lagers in einem separaten Haus untergebracht, umgeben von einem weiteren Bauzaun. Erst nachdem sich Bewohner*innen mit dem jungen Mann solidarisieren und an den Absperrungen rütteln, wird er in ein Krankenhaus gebracht. Zusätzlich rückt die Polizei an; unter Law and Order wird das Aufbegehren letztlich auch beim Innenministerium verbucht: „Mit Tumulten, verschiedenen Sachbeschädigungen im Haus und an den außen angebrachten Absperrungen versuchten die Asylbewerber ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen. […] Die Kriminalpolizei hat die Ermittlungen wegen Sachbeschädigung und Nötigung übernommen.“

Einen Tag später lassen sich Mitglieder des Landtags bei einer offiziellen Begehung über das Gelände des Lagers hofieren; natürlich nicht in Nostorf/Horst, sondern in Stern Buchholz. Vorab wird geputzt, gewerkelt und eingewiesen – Als würde die DDR-Führung das Flüchtlingsheim besuchen titelt der Nordkurier. Ein Kenner der Einrichtung kommt im Artikel zu Wort: „Das erinnert an alte DDR-Zeiten, als die Staatsführung aus Berlin irgendwo aufs Land anrückte. Auch Honecker und Co. wurden dann Jubelbilder präsentiert.“ Offizielle Stippvisiten dieser Art sind immer problematisch, weil inszeniert. Die Logik des Lagers basiert auch auf der strikten Trennung von gewollter und ungewollter Öffentlichkeit; auf der Verwaltung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit.[vii] Rundgänge und Begehungen finden entkoppelt von der Alltäglichkeit des Lagers statt, in dem sich diverse entanglements und Abhängigkeiten verdichten. Ein Bewohner sagt mir klar und deutlich: „Selbst wenn das Fernsehen morgen kommen würde, ich würde nichts sagen. Ich kann keine Probleme in meinem Verfahren gebrauchen.“

Mai: Mehr Transparenz! Mehr Mitsprache!

Als die Mahnwachen unter Auflagen wieder stattfinden können, wird schnell klar: Der Corona-bedingte Ausnahmezustand verstärkt die Überwachungsmechanismen, die permanent im und um das Lager wirken. PBR berichtet, dass jetzt noch genauer hingeschaut werde: von Polizei, Ordnungsamt und der Einrichtungsleiterin des Betreibers. Letztere „spricht […] Bewohner*innen an, warum sie zur Mahnwache gehen. Auch beobachtet sie genau, wer die Mahnwache besucht. Immer wieder – und so auch am vergangenen Sonntag – hören wir, dass Menschen deswegen nicht zur Mahnwache kommen, weil sie informelle Sanktionen befürchten.“

Am 16. Mai weist PBR in einem Facebook-Post darauf hin, dass 20 Bewohner*innen auf Grund der Infektion mit SARS-CoV-2 von Nostorf/Horst in die häusliche Quarantäne nach Parchim verlegt worden. Von Seiten des Innenministeriums folgt die prompte Antwort: Stimme nicht, alles gelogen! Sie seien in einer Klinik in der Ostseestadt Rerik untergebracht und es handele sich „lediglich“ um Verdachtsfälle. Die Initiative und ihr Beitrag geraten daraufhin in die Kritik. Ein Mitarbeiter der Malteser Werke kommentiert auf Facebook spöttisch: „Ich glaube ihr solltet mal eure Quellen hinterfragen! Diese Headline im Stile der Bild-Zeitung, stimmt vorne und hinten nicht! Schade!“ Auch der Flüchtlingsrat entsolidarisiert sich, als die Schweriner Volkszeitung über die Meldung berichtet: „Wir waren es nicht. Das hätte die SVZ ruhig schreiben können.“

Dabei wird gerade hier die Gretchenfrage gestellt: Wer weiß was und warum? Aktivist*innen von PBR erhielten die Informationen direkt von Bewohner*innen des Lagers, weil sie in eben diesem Glauben gelassen worden: Menschen, die mit Ärzt*innen vom Gelände geführt werden haben sich angesteckt und kommen nach Parchim. Nichts Neues: Schließlich ist der Alltag in der Einrichtung geprägt von Verlegungen, Verteilungen und Abschiebungen – zu unbekannten Zeiten an unbekannte Orte. Eine solche Form allumfassender Kontrolle jeglicher Bewegung kann ihren totalitären Beigeschmack nie vollends ablegen; nicht zuletzt, weil sie auf Intransparenz und Wissensmonopolen beruht, die in ihrer Legitimität nicht hinterfragt werden. Heute nicht wissen, wo ich morgen hingebracht werde wird somit zu einer Lebensrealität, deren grundlegender Terror nur deshalb keinerlei gesamtgesellschaftliche Relevanz findet, weil sie der weißgewaschenen Perspektive nicht-kasernierter Akteur*innen gänzlich unerschlossen bleibt.

Drei Monate Ausnahmezustand: alte Probleme, neue Chancen, wenig Lernbereitschaft

Die Mechanismen der Lagerunterbringung zwingen Bewohner*innen in einen höchst absurden Lebensalltag, in dem lückenlose Überwachung und ständige Sichtbarkeit mit fehlender politischer und gesellschaftlicher Repräsentation zusammenprallen. Rechtswidrige Praktiken – wie Leistungskürzungen und der Ausschluss vom Schulbesuch – sind neben der krankheitsfördernden Wohnsituation in Massenunterbringungen altbekannte Probleme, die während der Pandemie wie durch ein Brennglas verschärft werden. In MV hat der Krisenmodus dazu beigetragen, dass die Lebensbedingungen im AnkER-Zentrum wieder vermehrt öffentlich diskutiert werden, auch wenn die mediale Berichterstattung zu häufig in einer Reproduktion stereotyper Narrative vom Lager verhaftet bleibt. Geführt werden diese Debatten nach wie vor viel zu oft von Stellvertreter*innen – Abteilungsleiter, Staatssekretär, Pressesprecherin – und zu selten von den eigentlichen Expert*innen: den Bewohnern und Bewohnerinnen der Einrichtungen. Fakt ist: Wenn die Covid-19-Pandemie eine Möglichkeit bereithält, dann ist es die, Ungleichheiten und Diskriminierungen offenzulegen und die Systeme abzuschaffen, die sie hervorrufen. In Mecklenburg-Vorpommern wurde diese Chance bis dato verpasst: Prinzipielle Kritik an den Massenunterbringungen wird mit beunruhigender Routine abgetan, auf Forderungen der Bewohner*innen wird mit Polizeipräsenz geantwortet, die Abhängigkeits- und Ausbeutungsmechanismen im Lageralltag bestehen unhinterfragt fort.

Für die solidarische Praxis bedeutet der Ausnahmezustand nicht nur das vermehrte Ausweichen auf den digitalen Raum, als dringend notwendigen Ort, um Netzwerke und Kontakte aufrechtzuerhalten, sondern ebenfalls die Rückgewinnung bereits erstrittener Räume (wie dem Parkplatz vor dem Lager in Nostorf/Horst, auf dem die monatlichen Mahnwachen stattfinden) oder die Verteidigung grundlegender Rechte (wie dem der freien Versammlung). Solidarische Allianzen zwischen kasernierten und nicht-kasernieren Akteur*innen werden im wenig anonymen MV schon lange akribisch beobachtet und mit individuellen Sanktionen (bspw. Hausverboten) abgestraft; Zivilgesellschaft ist nur dann gern gesehen, wenn sie sich im vorgegeben Rahmen bewegt, möglichst handzahm und nicht zu radikal ist. Krisenbedingte Reglementierungen, Kontrollen und Überwachungen verstärken diesen institutionellen Blick auf solidarische Handlungsräume und laufen Gefahr zu „Auswüchsen einer politischen Macht“[viii] zu werden, deren oberste Priorität darin besteht zu segregieren und zu disziplinieren. Umso wichtiger erscheint daher die konsequente Einforderung einer inklusiven Solidarität, die nicht an Zäunen und Mauern Halt macht, sondern Räume schaffen kann, um sich zu artikulieren, zu erproben und zu verstetigen. Eine Politik, die das nicht versteht reißt Solidarität unweigerlich mit in die Krise, denn exklusiv gedacht und geknüpft an völkische Identität kann sie letztendlich nur zum Spielball nationalistischer Ideologien werden.

Beitrag Aktualisiert am 9.8.2020
Quellen und Anmerkungen:

[i]   Stand: 18.06.2020

[ii] Auch hier laufen wir Gefahr auf bürgerliche Narrative vom trauten Heim zurückzugreifen, ohne den institutionellen Charakter von Familie zu berücksichtigen (vgl. dazu Fanon 2008, 115). Innerhalb familiärer und häuslicher Strukturen können Unterdrückungs-, Ausbeutungs- und Gewaltverhältnisse ausgebildet und perpetuiert werden. Längst nicht jeder verbringt die Zeit der Kontaktbeschränkungen zu Hause „Karten spielend mit sich langeweilenden Kindern, zoffend mit sich langweilenden Partnerinnen oder Mitbewohnern. Viele sind auch alleine, einsam, vielleicht krank. Für die ist es schwer. Und dann gibt es noch diejenigen, für die stellt das Zuhause eine Gefahr dar, eine Lebensgefahr gar, immer schon, und jetzt erst recht.“ (Koester 2020)

[iii] Barskanmaz, Cengiz (2019). Recht und Rassismus: Das menschenrechtliche Verbot der Diskriminierung aufgrund der Rasse. Berlin: Springer. (S. 61)

[iv] Der Mediendienst Integration weist darauf hin, dass viele der Landesunterkünfte de facto wie AnkER-Zentren betrieben, jedoch im offiziellen Sprachgebrauch nicht so genannt werden.

[v] Die Aufnahmestelle Nostorf/Horst wurde im April 1993 durch die Landesregierung in Betrieb genommen und diente ursprünglich als Notlösung für die temporäre Unterbringung von Asylsuchenden, nachdem bei den rechtsradikalen Ausschreitungen in Rostock/Lichtenhagen im August 1992 die zentrale Aufnahmestelle (ZASt) ausgebrannt wurde. Als Reaktion auf die Überbelegung der mit 600 Betten ausgestatteten Einrichtung im Sommer 2015 wurde im Juni desselben Jahres eine weitere Aufnahmestelle in Stern Buchholz in Betrieb genommen. Während Nostorf/Horst seit Jahrzehnten regelmäßig in der Kritik steht, wird Stern Buchholz gern als Vorzeigeeinrichtung des Landes in Szene gesetzt.

[vi] Der hier zitierte Kommentar wurde nach Veröffentlichung dieses Beitrags gelöscht.

[vii]  Vgl. dazu Foucault, Michel (2014). Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (14. Aufl.). [1975] [Übers. Walter Seitter] Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Foucault beschreibt hier, wie sich die Logik der Disziplinaranstalt durch allmähliche, kontrollierte Öffnungen wandelt. Am Beispiel der Klinik erläutert er die Umstrukturierung zum „Prüfungsapparat“: „Die Prüfung kombiniert die Techniken der überwachenden Hierarchie mit denjenigen der normierenden Sanktion. Sie ist ein normierender Blick, eine qualifizierte, klassifizierende und bestrafende Überwachung. […] Das Ritual der Visite ist der sichtbarste Ausdruck dafür. Im 17. Jahrhundert verband der von außen kommende Arzt seine Inspektion mit einer Reihe anderer – religiöser, administrativer – Kontrollen; an der regulären Führung des Spitals nahm er kaum teil.“ (238f.)

[viii] Foucault, Michel (1994). Das Subjekt und die Macht. [1982] In: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow (Hg.): Michel Foucault: Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik (2. Aufl.). [Übers. Claus Rath/Ulrich Raulff] Weinheim: Beltz, 243-261. (S. 244)