Solidarität in pandemischen Zeiten. Ein Gespräch.

Martin Thiele und Klemens Ketelhut

Aktivist*innen aus queeren Kontexten haben verschiedentlich darauf hingewiesen, dass sich Parallelen zwischen der aktuellen Coronapandemie und dem Aufkommen von AIDS in den 80er Jahren ziehen lassen. Das folgende Gespräch über Gemeinsamkeiten und Unterschiede, über Wissen aus der damaligen Situation, mit dem wir uns heute wieder befassen sollten, und über Solidarität haben Martin Thiele (AIDS-Hilfe Halle/Sachsen-Anhalt Süd) und Klemens Ketelhut (Erziehungswissenschaftler und Soziologe) im Mai 2020 online geführt.

Klemens: Als erste Frage würde ich gern wissen, wo siehst du Zusammenhänge zwischen der heutigen Situation und der damaligen Situation, in der AIDS in die Welt gekommen ist?

Martin: Betrachtet man beide Pandemien aus einer epidemiologischen Sicht, haben sie zunächst gar nicht so viel gemein, unterscheiden sich vor allem hinsichtlich Übertragbarkeit, Verbreitung und Sterblichkeit. HIV ist eine in erster Linie sexuell übertragbare Infektion, die bestimmte Hauptrisikogruppen betraf und nach wie vor betrifft. Eine AIDS-Diagnose bedeutete zum damaligen Zeitpunkt ein unweigerliches Todesurteil. Demgegenüber ist das Coronavirus im Alltag übertragbar, bedroht daher potentiell jede_n, führt aber in den seltensten Fällen zum Tod. Ein soziologischer oder sozialpsychologischer Blick offenbart hingegen Gemeinsamkeiten hinsichtlich der gesellschaftlichen Situation sowie der individuellen und kollektiven Reaktionen auf die pandemische Bedrohung. Wir haben es mit sozialen Krisensituationen zu tun, auf die vielfach mit irrationaler Angst, sozialer Ausgrenzung und autoritären Sehnsüchten, aber auch mit zahlreichen lokalen Bemühungen solidarischer Unterstützung und Politik reagiert wird. In diesem Sinne lassen sich nicht wenige Parallelen zwischen der AIDS-Krise der 1980er und der heutigen Corona-Krise herstellen.

Klemens: Bevor ich nochmal auf die Frage der gesellschaftlichen – oder vielleicht auch kollektiven – Reaktion auf eine als Krise wahrgenommene Situation eingehe, würde ich gern einen Moment bei den Unterschieden bleiben, da sie in meinen Augen auch einer Differenzierung bedürfen. Der zentrale Unterschied, das hast du angesprochen, liegt im Übertragungsweg und auch in der potentiellen Betroffenheit. HIV und AIDS haben in der ihrer Anfangszeit, so könnte man es vielleicht formulieren, dafür gesorgt, dass sich gesellschaftliche Ordnungsmuster hinsichtlich der Zuschreibung von Verantwortung und Schuld verschoben haben. HIV und AIDS betrafen die, deren gesellschaftliche Situation bereits prekär war: die Schwulen und die bisexuellen Männer, Drogengebraucher:innen, Sexarbeiter:innen. Der Wunsch, HIV und AIDS beherrschbar zu machen, gipfelte ja in Phantasien von Einkerkerung und Separation, sowohl institutionell als auch in Alltagspraxen, etwas, das mit COVID-19 kaum möglich sein wird.

Martin: Da bin ich ganz bei dir, das halte ich für einen ganz zentralen Unterschied auch im sozialen Umgang mit AIDS und dem mit Corona – und in diesem Zusammenhang folglich mit den jeweils Betroffenen. Schaut man auf die Sozialgeschichte von Pandemien, so zeigt sich, dass Krankheiten stets mit symbolischen Bedeutungen aufgeladen werden, ihnen sowohl auf individueller Ebene als auch in gesellschaftlichen Diskursen ein tieferer Sinn zugesprochen wird. Die Schriftstellerin Susan Sontag beschreibt diese Prozesse eindrücklich in ihrem Werk Krankheit als Metapher. Während Pandemien verstärken sich solche Tendenzen durch die Atmosphäre gesamtgesellschaftlicher Infektionsängste, die kennzeichnend sind für pandemische Zeiten.

Klemens: Der Versuch, einem unkontrollierbaren Phänomen wie einem potentiell tödlichen Erreger, der unsichtbar in der Luft sein kann, einen Sinn zu geben ist wohl einer, der Kontrolle ermöglichen soll. Gibt es dazu in der Geschichte der Auseinandersetzung mit AIDS Parallelen?

Martin: In ihrem späteren Buch Aids und seine Metaphern macht Sontag deutlich, dass AIDS zu einem Schauplatz sozialer Grenzverhandlungen zwischen dem Eigenen und dem Fremden, dem Moralischen und dem Unmoralischen, dem Akzeptablen und dem Unakzeptablen wurde. Vor allem rechtspolitische Kräfte haben damals die Gelegenheit genutzt, um Stimmung gegen all jene zu schüren, die nicht in ihr Bild einer aufgeräumten und reinlichen Gesellschaft passten. Schuldzuschreibungen hinsichtlich eines vermeintlich unmoralischen Lebensstils haben hierbei eine ganz entscheidende Rolle gespielt. Aus den Opfern einer verheerenden Epidemie wurden so deren Täter gemacht.

Klemens: Im Kontext von HIV und AIDS haben sich diese Vorgehensweisen nicht durchgesetzt – hier gab es ein Umdenken. Dennoch entstehen auch mit COVID-19 neue Ausgrenzungsformen und Schuldzuschreibungen.

Martin: Von solch einer Sündenbockmentalität und den damit einhergehenden moralinsauren Bestrafungsphantasien sind wir heute glücklicherweise weit entfernt. Es mag vielleicht zynisch klingen, aber womöglich können wir froh sein, dass die aktuelle gesundheitspolitische Krise nicht nur ungeliebte soziale Minderheiten betrifft, sondern auch die heterosexuelle, weiße und bürgerliche Mehrheitsgesellschaft bedroht. Moralisch aufgeladene und menschenfeindliche Auslassungen wie zu Zeiten der AIDS-Krise tauchen jedenfalls in den Debatten um COVID-19 so kaum auf. Auf der anderen Seite müssen wir auch heute erleben, wie Ressentiments, Stigmatisierung und Marginalisierung in der gesellschaftlichen Atmosphäre panischer Angst gedeihen. Die Berichte über rassistische Anfeindungen und Übergriffe sind so zahlreich wie beschämend. Und weil Gesundheit heute mehr denn je als individuelle Anforderung an uns alle herangetragen wird, verschwindet die Verantwortungsfrage im gesellschaftlichen Diskurs und im sozialen Miteinander doch nicht gänzlich. Ich möchte die Ähnlichkeiten zur AIDS-Krise gar nicht überstrapazieren, aber wir täten alle gut daran, wachsam zu sein, was solche gesellschaftlichen Entwicklungen betrifft.

Klemens: Ich teile deinen Schluss: es ist im Moment wichtig, verschiedene gesellschaftliche Entwicklungen genau zu beobachten. Zum einen denke ich dabei an das Verhältnis von Bürger:innen und Staat, das gerade herausgefordert wird: Grundrechte werden vorübergehend eingeschränkt, um die Gesellschaft und die Einzelnen zu schützen. Zum anderen, das hast du angesprochen, werden die Brüche zwischen gesellschaftlichen Gruppen zunehmend sichtbarer – die ungleiche Verteilung von Care-Arbeit, rassistische Diskurse, die weiter zunehmen, die schlechte Entlohnung vieler der „systemrelevanten“ Berufe, die Verstärkung von Bildungsungleichheit durch die abrupte Schließung von Schulen, um nur ein paar Schlaglichter aufzurufen.
Schaut man sich als ein mögliches Beispiel die Situation von Kindern und Jugendlichen an, kann man schnell erkennen, dass nicht alle (und das nicht nur in Phasen der geschlossenen Bildungseinrichtungen) Zugang zu digitalen Lernformaten oder zu lernförderlichen räumlichen Gegebenheiten haben.
Betrachtet man die Gruppe der LGBTTIQ*-Kinder und -Jugendlichen wird zudem deutlich, dass sie besonderen Gefährdungen ausgesetzt sind. Viele queere Organisationen haben eindrücklich davon abgeraten, sich in der aktuellen Situation zuhause zu outen, weil die Gefahr familiärer Konflikte nicht abschätzbar ist, auch weil Supportsysteme eingeschränkt werden oder fehlen. Damit potenzieren sich Risiken für eine sowieso schon ausnehmend vulnerable Gruppe noch mehr, die aber im allgemeinen Diskurs über Corona wenig Beachtung findet. Die Lebenssituation vieler dieser Menschen ist per se durch zusätzliche Belastungen gekennzeichnet, weil sie nicht den gesellschaftlichen Schutz erhalten, den sie dringend bräuchten – auch vor COVID-19 nicht. Deutlich wird daran, dass die Einschränkungen alle, aber nicht alle im gleichen Ausmaß.

Martin: Das ist eine entscheidende Frage, die es auch oder gerade in Krisenzeiten zu diskutieren gilt. Gänzlich außer Frage steht meines Erachtens, dass ordnungspolitische Maßnahmen zur Eindämmung zur Ausbreitung von COVID-19 wie Kontaktminimierung oder Maskenpflicht notwendig waren. Sie leuchten den allermeisten Menschen auch ohne große epidemiologische Vorkenntnis vermutlich unmittelbar ein. Das sind sachlich begründete, damit legitime Vorgaben für das Leben mit dem Virus. Besorgniserregend stimmt es mich jedoch, wenn die Pandemie zum Vorwand genommen wird, um ganz klare Rechtsbrüche zu begehen oder Bürgerrechte gleich in Gänze auszuhebeln. Ich denke da zum Beispiel an die Verletzung des Datenschutzes und Patient:innengeheimnisses, wenn in einigen Bundesländern namentliche Meldungen von Erkrankten an die Sicherheitsbehörden erfolgen, über Bewegungstracking per App diskutiert oder die Möglichkeit eines Immunitätspasses ins Spiel gebracht wird. Bedenklich finde ich auch die pauschale Aussetzung der Versammlungsfreiheit, wenn beispielsweise politische Demonstrationen auch dann verboten werden, wenn Sie unter Einhaltung der Hygiene- und Abstandsregelungen erfolgen. Immer wieder hört man zudem vom teils unverhältnismäßigen und willkürlichen Vorgehen der Sicherheitsbehörden auch gegenüber kleineren Regelverstößen, in dem wohl Der Wille zum Strafen durchscheint, den der Sozialanthropologe Didier Fassin auch und vor allem für liberale Gesellschaften beschreibt.
In den letzten Wochen konnten wir beobachten, wie die meisten Menschen die Mahnungen von Seiten der Virologen und Epidemiologen ernst genommen haben und dem Social Distancing gefolgt sind. Dieses kollektive Vertrauen in die Wissenschaft finde ich bemerkenswert. Doch zugleich birgt es auch die Gefahr einer Entpolitisierung der Debatte und der Nichtbeachtung bedenklicher sozialpolitischer Entwicklungen, wenn wir ausschließlich virologische Erwägungen zum Maßstab unseres Handelns erheben. Es gibt eben Fragen, die nur politisch beantwortet werden können. Auch in einer pandemischen Krisensituation behalten Bürgerrechte ihre Gültigkeit, darf sich Politik nicht auf Biopolitik beschränken und sind politische Entscheidungen keineswegs alternativlos. Umso umfangreicher die politischen Einschnitte in die Freiheitsrechte und die direkten Auswirkungen für die Bürger*innen in ihrem Lebensvollzug, desto ausgeprägter muss eine kritische Diskussion über Maßnahmen und ihre gesellschaftspolitischen Folgen stattfinden.

Klemens: Für mich wäre ein nächster wichtiger Punkt die Frage nach Solidaritäten. Solidarisch zu sein ist eine Aufforderung, der wir uns im Moment alle ausgesetzt sehen, sei es, dass das Tragen von Masken als solidarischer Akt eingefordert wird, sei es, dass wir Community-Einrichtungen unterstützen sollen. Die hohe moralische Dignität, die dieser Begriff in sich trägt, fordert heraus, gerade jetzt, wo die Krise sich in eine Art Latenz transformiert. Dabei ist ja nahezu jede Handlung – auch die utilitaristischen Forderungen nach Triage etc. – mit dem Verweis auf Solidarität verbunden. Es scheint mir also eher eine Frage zu sein, welche Form von Gerechtigkeitsvorstellung hinter diesen Aufforderungen stehen. Können wir hier etwas von den Solidarisierungsprozessen, die mit HIV und AIDS entstanden sind – und ja entstehen mussten – „lernen“?

Martin: Wenn ich derartige Vorschläge zur Triage höre, wie sie beispielsweise neulich erst von Boris Palmer geäußert wurden, fühle ich mich unweigerlich an die Situation und an den rechtskonservativen AIDS-Diskurs während der frühen 1980er Jahre erinnert. AIDS war lange Zeit die Krankheit der Anderen. Daher sahen sich die Betroffenen einer Gesellschaft gegenüber, die ihrem massenhaften Sterben schulterzuckend zusah oder dieses sogar freudig begrüßte. Die Bundesregierung nahm AIDS zunächst nicht als ein gesundheitspolitisches Problem wahr. Das Leben der Betroffenen wurde als entbehrlich betrachtet. Erst als klar wurde, dass HIV nicht nur gesellschaftliche Minderheiten trifft und befürchtet wurde, AIDS können von den Rändern der Gesellschaft in ihre Mitte vordringen, sah man sich zum Handeln gezwungen.
In der heutigen Debatte um Triage erkenne ich ähnliche diskursive Muster, in denen bestimmten Leben weniger Wert beigemessen wird als anderen. Die Philosophin Judith Butler spricht in diesem Zusammenhang von „gefährdeten Leben“, die sich dadurch auszeichnen, dass ihre Existenz im gesellschaftlichen und politischen Diskurs übergangen und ihr letztlicher Verlust nicht einmal betrauert wird. Einige Menschen potentiell dem Tod zu überlassen, damit alle anderen keine Einschränkungen in Kauf nehmen müssen, mag im utilitaristischen Verständnis eine sehr verdrehte Form der Solidarität oder Gerechtigkeit sein, aber ganz sicher nicht im Sinne einer demokratischen Gesellschaft. Hier tritt nicht nur ein nahezu unerträglich zynisches, sondern durch und durch antimodernes Denken auf den Plan, auf das mit entschiedenem politischen Widerspruch reagiert werden muss. Wir dürfen nicht zulassen, dass uns die Werte unserer freiheitlichen und pluralistischen Gesellschaft in der Pandemie durch derartig reaktionäre Einlassungen verloren gehen.

Klemens: Ich finde es wichtig, an dieser Stelle auch die Situation von Menschen, die auf der Flucht sind oder waren, zu bedenken. Die dramatischen Situationen zum Beispiel auf Lesbos, die sich in den letzten Wochen unter den Vorzeichen von Corona noch einmal zugespitzt haben, oder die Situation von Menschen, die hier bei uns in Sammelunterkünften leben, verweisen ebenfalls darauf, dass Leben sehr unterschiedlich bewertet werden. Butler hat den Begriff der gefährdeten Leben in ihrem Buch Raster des Krieges“ (Orig.: Frames of War. When is Life Grievable?) entwickelt, in dem es um die zentrale Frage geht, wie diese Raster die Unterscheidung zwischen verschiedenen Leben und der Beurteilung ihres Werts affektiv aufladen und ihnen damit eine andere Rechtfertigung geben, die, beispielsweise auch im Namen der Demokratie oder der Menschenrechte vorgetragen und erlebbar werden. Diese Perspektive bietet in meinen Augen eine gute Möglichkeit für das Verständnis der globalen Situation als auch der der innergesellschaftlichen sozialen Ungleichheit aber auch dafür, wie Solidarisierungen möglich werden. Das lässt sich am Beispiel der Organisierung solidarischer Bewegungen im Kontext von AIDS auch gut erkennen.

Martin: Ich glaube, dass wir in diesem Zusammenhang aus den solidarischen Bewegungen der AIDS-Krise lernen können. Dass schwule Männer bei der Bewältigung der Epidemie zunächst auf sich allein gestellt waren, zog einen Solidarisierungseffekt innerhalb der Schwulenszene nach sich. Die Community kam zusammen, um einander im wortwörtlichen Kampf ums Überleben beizustehen. Hierzulande entstand aus dem zunächst informellen Austausch über Krankheit und Schutzmöglichkeiten die organisierte Aidshilfebewegung, die sich der Prävention, Begleitung und Versorgung annahm. Zudem bildeten sich aktivistische Zusammenschlüsse unter dem Label ACT UP, die sich durch öffentlichkeitswirksame Aktionen gegen Ausgrenzung von Minderheiten, für bezahlbare Medikation und für eine angemessene gesundheitliche Versorgung der Betroffenen einsetzten. Die Solidarität machte jedoch nicht bei der eigenen Betroffenheit halt, war keine bloße Identitätspolitik. Obwohl die Bewegungen zu großen Teilen von schwulen Männern getragen wurden, übten sie den Schulterschluss mit den anderen marginalisierten Gruppen, die von AIDS bedroht und betroffen waren. Sie standen im sogenannten AIDS-Krieg Seite an Seite gegen das Virus und seine gesellschaftlichen Alliierten. Es war diese gelebte, grenzenlose Solidarität, die sich an den Schwächsten orientierte und alle mitdachte, die ganz entscheidend dazu beigetragen hat, dass sich hierzulande ein menschenrechtsorientierter Kurs in der AIDS-Politik durchsetzen konnte.

Klemens: In der jetzigen Situation erleben wir zunehmend Veränderungen hin zu einem Wunsch nach autoritären Strukturen und einer eher repressiven Politik, die für viele Menschen unserer Gesellschaft offenbar nicht wirklich problematisch zu sein scheinen. Welche Bedeutung könnte so eine Veränderung für LGBTTIQ*-Menschen provozieren? Und was wären mögliche Ansatzpunkte für ein anderes Vorgehen, die wir aus der bisherigen Bewegungsgeschichte mitbringen und wie könnten wir die fruchtbar machen?

Martin: Die autoritären Sehnsüchte, die in der aktuellen Situation nur offensichtlicher werden, sind kein neues Phänomen. Wir erleben weltweit bereits seit einigen Jahren das scheinbar unaufhaltsame Erstarken rechtsnationaler, völkischer und autoritativer Kräfte in Politik und Gesellschaft. Diese bedrohen ganz unverhohlen das Leben queerer Menschen. Daher ist bereits deutlich zu spüren, dass das gesellschaftliche Klima für LSBTIQ hierzulande zunehmend rauer und unwirtlicher werden wird. Da die AfD mittlerweile zudem in zahlreichen Parlamenten vertreten ist und damit auch über die Mittelvergabe öffentlicher Gelder mitentscheidet, wächst natürlich auch die Gefahr für die queeren Strukturen, die in den letzten Jahrzehnten aufgebaut wurden.

Klemens: Diese Beobachtung teile ich und ich teile auch deine Besorgnis, die damit einhergeht. Ich interpretiere das als Versuch, gesellschaftliche Ordnungen, die letztlich auch durch die Pluralisierung von Lebensentwürfen herausgefordert wurden und werden, in einem restaurativen Sinne zu stärken. Gerade Geschlecht ist ja einer der fundamentalsten gesellschaftlichen Platzanweiser, darauf hat die Soziologin Gudrun Axeli-Knapp bereits Ende der 1980er Jahre hingewiesen und entsprechend ist es auch nicht verwunderlich, dass Geschlechterverhältnisse und Sexualitäten für diese Bestrebungen eine so zentrale Rolle spielen.

Martin: Inwiefern die aktuelle Coronapandemie auf diese Entwicklung Einfluss nehmen wird, ist noch nicht absehbar. Derzeit sind sowohl Anzeichen für eine Schwächung als auch eine Stärkung nationalistischer und autoritärer Denkmuster und Politiken erkennbar. Zuversichtlich stimmt mich in diesem Zusammenhang, dass sich die Umfragewerte der AfD gerade im Tiefflug befinden, weil vielen Menschen nun vor Augen geführt wird, dass rechtsradikale Parteien ganz offensichtlich keine Lösungen für gesellschaftliche Problemlagen anzubieten haben. Verschwörungstheorien finden beim überwiegenden Teil der Bevölkerung kaum Gehör, das Vertrauen in wissenschaftliche Fakten scheint hingegen groß. Auf der anderen Seite – und davor warnte unlängst der französische Philosoph Geoffroy de Lagasnerie in seinem Kommentar Missklänge – kann vor allem die nationale Mobilisierung zum Aufleben nationaler Affekte mit all den dazugehörigen autoritären Konsequenzen beitragen. Dass dies bereits Wirkungen zeigt, erkennen wir daran, dass sich Bürger_innen immer wieder dazu berufen fühlen, im Interesse eines imaginierten Staats- oder Volkskörpers auf die Regelverstöße anderer mit sozialer Sanktionierung oder gar Denunziation bei den Sicherheitsbehörden zu reagieren. Das sind Verhaltensweisen, die ganz typisch sind für autoritäre Gesellschaften nach traditionellem Muster, in denen kollektive Bedürfnisse über denen der Einzelnen stehen. Schaut man nun in der Geschichte zurück oder in andere Teile der Welt wie beispielsweise den Iran oder Russland, sind es eben jene Gesellschaftsmodelle, in denen queeren Menschen keineswegs mit Akzeptanz, sondern mit Ablehnung oder gar Verfolgung begegnet wird.

Klemens: Damit hast du auch noch einmal ein Erklärungsmuster für utilitaristische Argumentationen vorgestellt, die ja ebenfalls kollektivistisch abwägen und argumentieren. Es scheint es mir sinnvoll zu sein, das in einem Zusammenhang mit den Restaurationsversuchen gesellschaftlicher Ordnung zu denken. Gehen Forderungen nach der Möglichkeit, sich selbst sexuell oder geschlechtlich zu erleben und zu positionieren eher in Richtung einer auf individuelle Lebensentwürfe orientierte Idee von Gesellschaft, stellen kollektivistische Zugänge eher Gemeinschaftsvorstellungen in den Vordergrund, die notwendigerweise durch autoritäre Handlungsmuster abgestützt werden müssen, da sie an ihren Grenzen viel weniger Durchlässigkeit akzeptieren (können). Damit will ich nicht sagen, dass es keine kollektiven Führungswünsche in einer offeneren Gesellschaft gibt, auf diese Prozesse hat Ulrich Bröckling in seinem Buch Gute Hirten führen sanft auch hingewiesen. Gerade die Pädagogik hat an dieser Stelle noch einen erheblichen Bedarf an disziplinärer Selbstaufklärung. Gleichzeitig können Entwicklungen, die aktuell beobachtbar sind, darauf verweisen, dass es wieder neue Querfrontbestrebungen gibt, so, wie es bereits 2014 mit den so genannten Montagsdemonstrationen war. Diese wurden ja schnell zu einer Art Plattform für sehr problematische Artikulationen und haben sicherlich zu der Entwicklung der AfD, wie wir sie heute kennen, beigetragen.

Martin: Diese Entwicklungen zeigen, dass wir uns als Community nicht mit den Erfolgen der letzten Jahrzehnte zufriedengeben können. Im schlimmsten Fall müssen wir diese bisher als sicher geglaubten Errungenschaften sogar gegen eventuelle Rückschritte verteidigen. Auf welche Ressourcen wir dabei bauen können, macht uns queere Geschichte deutlich. Wie Sabine Hark in Koalitionen des Überlebens herausstellt, lag die Stärke queerer Bewegungen schon immer in ihren von Solidarität getragenen Bündnispolitiken, um sich für die eigenen und die Anliegen anderer sozialer Bewegungen einzusetzen. Was man darüber hinaus besonders von ACT UP lernen kann ist die Umwandlung von Angst, Ohnmacht und Frustration in produktive Wut und kreativen Aktivismus, die vor allem im Motto: „Schweigen bedeutet Tod; Handeln bedeutet Leben“ zum Ausdruck kamen. Auch wir sollten wieder wütender sein auf eine Gesellschaft, in der wir, unsere Identitäten und unsere Leben nicht vollends akzeptiert werden, und entschieden kämpferischer, vielleicht sogar unversöhnlicher gegenüber den Verhältnissen und den Politiken, die sie erhalten, auftreten. Die beste Antwort auf das Erstarken rechter, autoritärer und antiqueerer Diskurse und Bewegungen, so glaube ich, ist auch heute eine solch radikale politische Bewegung aller sexuell Perversen und geschlechtlichen Dissidenten, die solidarische Bündnisse mit anderen gesellschaftlich Marginalisierten schmiedet, um voneinander zu lernen und einander beizustehen.

Martin Thiele ist Geschäftsführer der AIDS-Hilfe Halle/Sachsen-Anhalt Süd und arbeitet sozial- und kulturwissenschaftlich zur AIDS-Geschichte, queeren Bündnissen und emanzipatorischen Sexualpolitiken. (https://www.halle.aidshilfe.de/)

Klemens Ketelhut, Erziehungswissenschaftler und Soziologe, aktuell beschäftigt an der Heidelberg School of Education im Bereich Begleitforschung Inklusion. Forschungsschwerpunkte: kulturelle Bewegungen im ausgehenden 19. Jahrhundert, Pädagogisierung sozialer Bewegungen insbesondere der emanzipatorischen Lesben- und Schwulenbewegungen in den 1980er Jahren, heteronormativitätskritische Bildungsprozesse. (https://hse-heidelberg.de/ueber-die-hse/team-von-a-z/ketelhut-klemens)

Eine längere Version des Gespräches findet ihr auf der Homepage der AIDS-Hilfe Halle/Sachsen-Anhalt Süd.