Wenn Alltagsorte und soziale Routinen wegbrechen

Die Auswirkung von Covid-19 auf die Leben junger Geflüchteter und Asylsuchender in Leipzig

Elisabeth Kirndörfer

Mit der Ausbreitung des Corona-Virus wurde schnell klar, dass wir unsere Arbeit im HERA-geförderten Forschungsprojekt zu den „Alltagserfahrungen junger Geflüchteter und Asylsuchender im öffentlichen Raum“[1] anpassen müssen: Im Zentrum des Projekts stehen die Erfahrungen, die junge Geflüchtete im öffentlichen Raum machen und die Art und Weise, wie sie ihn mitgestalten und sich aneignen. Die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen wirbelten unser Forschungsfeld und -vorhaben durcheinander: Der öffentliche Raum? „Kein Leben mehr auf der Straße!“, so einer unser Gesprächspartner. Der Kern unserer Forschung – direkte Gespräche mit jungen Geflüchteten und Asylsuchenden, Erzählspaziergänge, Storytelling-Workshops – all dies fiel zunächst aus. Im internationalen Team beschlossen wir daher unseren Fokus auf die Krise zu richten und basierend auf einer Telefonbefragung unter Aktiven in Geflüchteteninitiativen auf die besonders schwierige Situation geflüchteter Menschen in der Corona-Situation hinzuwiesen. Ergänzen konnten wir dieses Material mit den Perspektiven junger Geflüchteter und Asylsuchender, mit denen wir uns im Rahmen von „Online-Interviews“ austauschten. So froh wir über diese Möglichkeit des In-Kontakt-Bleibens und -Tretens waren, so überzeugt sind wir auch, dass diese Kommunikationsform Grenzen hat, besonders wenn es um sensible Themen und Gefühlslagen geht. Dennoch denken wir, dass diese „Mini-Erhebung“ einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Debatte leistet. Sie zeigt einerseits, wie empfindlich die Krise die tagtägliche „Arbeit am Ankommen“, die junge Geflüchtete und Asylsuchende leisten, getroffen hat. Andererseits, wie sehr sich ein staatliches System, das Geflüchtete und Asylsuchende politisch, sozial und räumlich marginalisiert, sich auf die Arbeit von Initiativen und Vereinen, die junge Menschen mit Fluchtbiografie unterstützen, verlässt.

“Zu Hause bleiben” im Kontext von Flucht und Migration

„Am meisten vermisse ich es, ins Fitnessstudio zu gehen.“ Mit dieser Antwort auf meine Frage, was M.[2]  während der Corona-Krise am meisten in Leipzig vermisst, möchte ich mein Nachdenken darüber beginnen, wie sich die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus auf die Leben junger Geflüchteter in Leipzig auswirken. Was bedeutet „zu Hause bleiben“ für sie? Wie gehen sie mit dem Herunterfahren des gesellschaftlichen Lebens und der Aktivitäten im öffentlichen Raum um? Diese Reflektion basiert nicht auf einer systematischen Untersuchung, sondern stellt eher eine Momentaufnahme dar, die die Gedanken und Einschätzungen von knapp zehn jungen Geflüchteten und Asylsuchenden bündelt, die nicht (mehr) in einer Gemeinschaftsunterkunft, sondern ihrem privaten Zuhause in Leipzig leben. Ergänzt werden diese Erzählungen mit Aussagen von gesellschaftspolitischen Akteur*innen, die für das Ankommen geflüchteter Menschen in der Stadt sorgen – soziokulturelle Vereine, Beratungsstellen, Sozialbetreuungen.[3]

Das Fitnessstudio ist aus M.‘s Perspektive kein banaler Alltags- und Freizeitort. Was er dort findet, ist eng mit seiner aktuellen Lebenssituation verknüpft: „den Stress loswerden, weißt du, was ich meine? Den Stress ein bisschen loswerden…”. Später betont er, dass die zentrale Herausforderung in seinem aktuellen Leben darin bestehe „nicht zu gestresst zu sein“. Stress: Die Corona-Situation verschärft den Druck, der auf dem Leben junger Geflüchteter sowieso schon lastet – durch Asylverfahren, die langwierige und komplizierte Kommunikation mit den Behörden, das Kämpfen um eine Arbeitserlaubnis, um nur einige zu nennen. Auf meine Eingangsfrage, „Wie ist dein Leben im Moment?” schweigt M. zunächst, dann lacht er kurz auf und sagt: “Mein Leben ist immer noch nicht einfach, immer noch nicht einfach. Seit der Epidemie-Sache ist das Leben schwieriger geworden.“ Es ist weniger die Angst vor dem Virus, die M. beschäftigt, als das Wegbrechen alltäglicher Mobilität und sozialer Routinen: Nicht mehr zur Arbeit gehen, die ganze Zeit zu Hause sein, sich nicht frei bewegen können – und, wenn man doch vor die Tür geht, die Angst, kontrolliert zu werden. „Das fühlt sich apokalyptisch an!“, sagt er. Die Gefahr, dass es im Zuge der Corona-Krise „zu rassistischen Problemen“ kommt, betont auch die Mitarbeiterin einer Migrant_innenselbstorganisation und denkt hierbei verstärkt an jugendliche Geflüchtete, die erst seit kurzem in Deutschland leben und sich noch nicht adäquat ausdrücken können – sie fürchteten besonders, von der Polizei kontrolliert und „mitgenommen“ zu werden. Gleichzeitig findet M. Wege, mit der spannungsvollen Situation umzugehen – “wir haben keine Wahl, wir müssen damit leben”.

 

Dies ist das Spannungsfeld, das die Lage junger Geflüchteter in der Pandemie beschreibt: Eine besondere Druck- und Belastungssituation auf der einen Seite, der Rückgriff auf Taktiken des „Klarkommens“ auf der anderen. Was die Gespräche mit den jungen Menschen ebenfalls deutlich machen: Soziokulturelle Initiativen spielen in ihrem Leben eine zentrale Rolle. Den Stillstand, in den das gesellschaftliche Leben durch die Corona-Krise mehr oder weniger geraten ist, trifft sie daher ganz besonders und legt auf schmerzliche Weise offen, wie sehr sich ein System, das Menschen über seine Flucht- und Asylpolitik räumlich, sozial und politisch marginalisiert, gleichzeitig auf die anerkennungsbasierte Alltagsarbeit zivilgesellschaftlicher Akteure verlässt.

Anhand der hier zusammengetragenen Stimmen wird deutlich, was es bedeutet, wenn die vielfältigen „infrastructuring practices“ (Meeus et al. 2019, 2) junger Menschen mit Fluchtbiographie, mit denen sie sich im urbanen Raum „Plattformen des Ankommens und wieder Abhebens“ (ebd.) schaffen, zum Erliegen kommen und wie fragil ihre Lebensentwürfe selbst bei guter zivilgesellschaftlicher Einbindung bleiben.

Vereine und Initiativen als Wege in die Stadtgesellschaft

So ist die Corona-Zeit für W. „die schwierigste Zeit hier in Deutschland“. Bei einem genaueren Blick auf seine Lebenssituation mag diese Aussage zunächst überraschen: Er lebt in einer Wohngemeinschaft und kann seinem Studium-vorbereitenden Sprachkurs, wie auch seiner Arbeit in einem Leipziger Verein „online“ nachgehen; vergleichsweise hat er also eine ‚gute‘ Position in der Stadt. Und dennoch: Ohne seine sozialen Netzwerke, den Austausch in Vereinen, ohne Sport und das Miteinander beim gemeinsamen Musizieren fühlt sich sein Leben „total zerstört“ an. Auf meine Frage, wie er mit diesem Verlust seines aktiven sozialen Lebens umgegangen ist, antwortet W. indirekt: Er erzählt von seinem allerersten Ankommen in Leipzig, das ganz grundlegend mit den Angeboten eines Vereins verknüpft ist, der noch heute eine wichtige Rolle in seinem Leben spielt. „Ich glaube, der Grund, was ich bin, was ich mache, warum ich hier in Leipzig bin ist… *Verein* Leipzig.“ Seine drastische Wortwahl – „total zerstört“ – und das Gewicht, das er einem Verein bezüglich seines Hier-Seins beimisst – „der Grund, was ich bin“ –  zeigen: Sein Leben in Leipzig ist eng mit den Räumen der Anerkennung, des Empowerments und der Begegnung verwoben, die zivilgesellschaftliche Akteur*innen in der Stadt schaffen.

Doch was ist mit den Menschen, die nicht das Glück hatten, sich einen Anlaufort zu erschließen? Denn sich soziale Netzwerke aufzubauen, dies betont auch die Mitarbeiterin eines großen soziokulturellen Zentrums in der Stadt, ist harte Arbeit und es braucht Glück dafür. Nur einem kleinen Teil von einer sehr großen Gruppe gelingt dies. Nahezu „auf sich allein gestellt“, so der soziale Betreuer in einer Unterkunft für Geflüchtete und Asylsuchende, sind vor allem jene Menschen, die in abseits der Stadtzentren gelegenen Gemeinschaftsunterkünften, oder – hier ein noch „starrerer“ Zustand – in Erstaufnahmeeinrichtungen leben. Sie leiden ganz besonders unter den Beschränkungen, denn Beratungen sind eingestellt, Gemeinschaftsräume geschlossen, Kinder- und Familienbetreuungsangebote, aber auch Aktivitäten wie Sport, Nähcafés oder Fahrradwerkstätten sind ausgesetzt. Ehrenamtliche Unterstützungen, wie z.B. Patenschaften wurden ganz „auf Eis gelegt“ – es gibt kaum Kontakt zu den Bewohner*innen. Die sehr prekäre Teilhabesituation, die durch die geographische Lage der Unterkünfte sowieso schon besteht, ist während der Pandemie also verschärft: Der Anschluss an gesellschaftliches Leben quasi unmöglich. Auch aufgrund des längst nicht umfassend bereitgestellten freien WLANs sind „diese Menschen de facto gerade von der Außenwelt abgeschnitten.“

„Doing arrival“ unter Pandemie-Bedingungen

Doch auch wenn es die technischen Voraussetzungen gibt: Die Umstellung auf „online“ ist keinesfalls ein Selbstläufer. Fast alle Befragten berichten von den Herausforderungen, Umschulungs-, Sprachkurs-, oder Ausbildungsinhalten „virtuell“, d.h. über den privaten Computer zu folgen. Ganze fünf Tage hat J. gebraucht, um sich technisch so einzurichten, dass der Zugriff auf die Lernplattform funktionierte und er die zweiwöchentliche Prüfung für seine Umschulung ablegen konnte. Das Lernen von zu Hause empfindet er als „stressig“: Ihm fehlt nicht nur der direkte Kontakt zu den Dozierenden, sondern auch die gute Lernumgebung, die er ‚vor Corona‘ vor allem in der Bibliothek fand.

Auch ein Mitarbeiter einer Familienberatungsstelle betont die Schwierigkeiten, die das Lernen von zu Hause besonders für Kinder und Jugendliche birgt: In den Familien fehlt es teilweise an sprachlichen Voraussetzungen für das home schooling, aber auch, ganz schlicht, an Geräten. Außerdem bestehe bei Jugendlichen die Gefahr von Handy- oder Internetsucht und, durch das lange ‚Aufeinander-Sitzen‘, von Spannungen und Konflikten in der Familie.

Teilweise sind es vermeintlich nur kleine Verschiebungen im Alltag, die die Corona-Situation für junge Geflüchtete und Asylsuchende bedeutet: das Verpassen von Kursinhalten, das Aufschieben des Sprachkurs-Besuches einer jungen Mutter, die nun ihre Kinder zu Hause betreut, oder der drastisch verlängerte Weg zur Arbeit aufgrund des Wegfalls einer Mitfahrgelegenheit. In einer Lebenssituation, die von einer graduell unterschiedlichen  „precarious temporariness“ (Meeus et al. 2019, 5) geprägt ist, wirkt sich jedoch auch ein vorgezogener Tagesbeginn – Aufstehen um 4:30 – oder die Unterbrechung des Deutschlernens ungleich stärker aus, als unter „normalen“ Bedingungen. So bleibt im ersten Fall kaum mehr Zeit für die Pflege sozialer Netzwerke und im Zweiten verstärkt sich der Druck, der bezüglich des Spracherwerbs auf Newcomer*innen lastet. Die Pandemie potenziert die Herausforderungen, mit denen sich junge Geflüchtete in ihrem tagtäglichen „doing arrival“ konfrontiert sehen.

„Versuchen, damit klarzukommen”

Die Corona-Situation ist jedoch gleichzeitig eine, die die jungen Geflüchteten aktiv gestalten. So ist es einigen meiner Gesprächspartner*innen auch gelungen, dieser kontaktreduzierten Zeit etwas Positives abzugewinnen: F. erzählt, dass er „in dieser Zeit etwas anderes entwickelt“ habe, nämlich eine Art „Überblick“ – „Weißt du! Dass ich darauf schaue, was ich bisher gemacht habe und was ich gut kann und daran weiterarbeiten.” War er vorher noch in zahlreichen interkulturellen Projekten aktiv, konnte er das Zuhause-Bleiben nun nutzen, um innezuhalten, sich zu fragen, wo seine Stärken und Schwächen liegen und darüber nachzudenken, wie er sein Leben ausrichten will. Auch W. hat mit der Zeit seinen Umgang mit der Pandemie-Situation gefunden, versucht sich abzulenken und einen neuen Alltagsrhythmus für sich zu finden.

Komme ich zurück zu dem eingangs bezeichneten Alltagsort, den mein Gesprächspartner M. besonders vermisst – das Fitnessstudio – lässt sich folgendes Fazit ziehen: Diese kleine Sammlung an Perspektiven auf die Krise hat erstens gezeigt, wie folgenreich es ist, wenn alltägliche Praktiken, mit Hilfe derer sich junge Geflüchtete und Asylsuchende den urbanen, und damit gesellschaftlichen Raum erschließen, durch Ausgangsbeschränkungen und das Herunterfahren des öffentlichen Lebens zum Erliegen kommen. „Zu Hause bleiben“ ist im Kontext von Flucht keine wohltuende Pause in stressigen Alltagsroutinen, sondern eine ernsthafte Gefährdung des „doing arrival“ – der tagtäglichen Arbeit am institutionellen, sozialen und privaten Ankommen und/oder Teil-Werden, zu dem das staatliche Asylsystem mit seinen restriktiven Bestimmungen die Newcomer*innen zwingt. Zweitens, zeigt diese Sondierung jedoch auch, auf welche Umgangsstrategien die jungen Menschen zurückgreifen können, um dem erhöhten Druck zu begegnen und handlungsfähig zu bleiben.

Die Corona-Situation kehrt außerdem, so wurde deutlich, die immense Rolle, die soziokulturelle Einrichtungen, und besonders auch Migrant_innenselbstorganisationen im „urban emplacement“ (Glick Schiller & Caglar 2015) für junge Geflüchtete spielen, hervor: „Viele Jugendliche, auch die Mädchen und die Familien mit Fluchtgeschichte sind mit sozialen Einrichtungen verbunden. Dort haben sie Vertrauen und bekommen ihre Informationen. Und das fehlt. Sie sind jetzt alleine. Es ist ganz wichtig, dass sie ihre Arbeit weitermachen“, so der Mitarbeiter einer Familienberatungsstelle. Schließen möchte ich mit dem eindringlichen Appell einer Mitarbeiterin eines soziokulturellen Vereins an die Politik: „Wir steuern auf eine große soziale Krise zu und müssen jetzt dafür sorgen, dass die organisierte Zivilgesellschaft gut arbeiten kann.“

[1] Unser Projekt findet in enger Zusammenarbeit mit Forscher*innen und Praxispartner*innen in Amsterdam, Newcastle und Brüssel statt, mit denen wir unsere Ergebnisse vergleichen werden. Gefördert wird diese Zusammenarbeit von der europaweiten Forschungsvereinigung für die Geisteswissenschaften HERA („Humanities in the European Research Area“).

[2] Alle Namen sind anonymisiert.

[3] Diese Perspektiven wurden im Rahmen einer Telefonbefragung erhoben und in einer Pressemitteilung veröffentlicht, mit dem Ziel, auf die besondere Lage von Geflüchteten und Asylsuchenden in der gegenwärtigen Situation in Leipzig aufmerksam machen.

Quellen

Meeus, Bruno; Arnaut, Karel & van Heur, Bas (Hrsg.) (2019): Arrival Infrastructures. Migration and Urban Social Mobilities. Palgrave.

Glick Schiller, Nina & Caglar, Ayse (2015): Displacement, emplacement and migrant newcomers: rethinking urban sociabilities within multiscalar power. Identities, Vol. 23, 1.