Bio-Macht, Staatsrassismus und unterworfenes Wissen in Zeiten von COVID-19

Çağan Varol

Nach einer kurzen theoretischen Einführung des Bio-Macht-Konzepts und der Rassismusanalyse von Michel Foucault, wird im Artikel auf Praxisbeispiele eingegangen, die sich in den letzten Jahren und vor allem während und kurz vor der Pandemie ereignet haben, wie das Massaker von Hanau und die Ermordung von George Floyd. Auch werden andere lokale Ereignisse angesprochen, um die Dis-/Kontinuitäten in der Wahrnehmung von Rassismus zu verdeutlichen. Die Covid-19-Pandemie hat zusätzlich dazu beigetragen, dass sich die Situation der marginalisierten nochmals verschärft hat.

Der Fokus dieses Artikels liegt einerseits auf der Wahrnehmung rassistischen Terrors und der medial-politischen Darstellung, und andererseits auf den Auswirkungen der Covid-19 Maßnahmen auf rassifizierte Räume. Dieser Text könnte daher auch die Überschrift „Die Pandemie des Rassismus“[1] tragen. Der Massenmord von Hanau, bei dem in u.a. zwei Shisha Bars, zehn Menschen getötet wurden, ereignete sich am 19. Februar 2020. Auf der Mahnwache am Tag darauf durften die Angehörigen selbst aber nicht sprechen (Mullis 2020a). Während Hanau wegen der Pandemie kurze Zeit danach medial kaum mehr thematisiert wurde, außer durch die Initiative 19. Februar und der Angehörigen (#saytheirnames)[2], und der rechtsextreme Täter letztendlich zu einem psychisch verwirrten Einzeltäter erklärt und damit die Tat entpolitisiert wurde, brachte der Mord an George Floyd am 25.05.20 durch Polizisten einen globalen anti-rassistischen Protest hervor.

Auch wenn nach dem NSU, dass Sprechen über Rassismus in Deutschland hörbarer geworden ist, wird das Problem des Rassismus in den Staatsapparaten übergangen (vgl. Bojadžijev 2018: 48). Die Analyse von Rassismus gilt vielen Wissenschaftler*innen ohnehin als „unwissenschaftlich“ und es wird „Moralismus“ sowie „Übertreibung“ vorgeworfen (ebd.). Gerade deshalb ist es wesentlich am Rassismusbegriff und -konzept festzuhalten. Auch die Unterscheidung von (Neo-)Rassismen ist notwendig, um die Transformationen, die der Rassismus gemacht hat, konzeptionell zu fassen, da es sich um ein kollektives und kontinuierliches Phänomen der Moderne handelt (vgl. Terkessidis 2018: 67 ff.). Rassismus ist vor allem ein Prozess der Konjunkturen durchläuft und als Ergebnis von Macht rassistisches Wissen und dessen „Objekte“ konstruiert (ebd.: 68). In diesem Sinne sind die Subjekte des Rassismus zumeist keine Einzeltäter, sondern Personen, die dem Herrschaftswissen folgen und dieses in die Tat umsetzen. Eine kritische Rassismusanalyse muss daher weniger auf Ideologien, psychologische Faktoren etc. fokussieren, sondern die Perspektive umkehren und auf das Wissen der Unterworfenen Bezug nehmen.

Das Gedächtnis der Kämpfe

Die von Michel Foucault als „unterworfene Wissensarten“ bezeichneten Wissensformen, waren „jene Blöcke historischen Wissens, die innerhalb der funktionalen und systematischen Ganzheiten präsent und verschleiert waren“ (Foucault 2010: 13). Dazu zählt auch hierarchisch untergeordnetes Wissen, das als Wissen der Leute bezeichnet werden kann. „….durch das Wiederauftauchen dieses lokalen Wissens der Leute, dieses disqualifizierten Wissens entstand die Kritik“ (ebd.). Ebenso beschreibt Donna Haraway das „situierte Wissen“ als die Positionen der Unterworfenen, welche keine unschuldigen Positionierungen sind und sieht die Lösung in einer beweglichen, kritischen, partiellen Perspektive, die mehr Objektivität verspricht (Haraway 2001: 286 f.). Wie auch El-Tayeb zum wissenschaftlichen Umgang mit Rassismus in Deutschland beschreibt, besteht die implizite Annahme darin, das rassifizierte Menschen nur Betroffenheit produzieren können und niemals Analyse, während nur eine unpolitische und objektive weiße, heteronormative Wissenschaft dazu in der Lage ist, diese herzustellen (vgl. El-Tayeb 2016: 22).

Die Zusammenkunft von Gelehrsamkeit und dem unterworfenen Wissen brachte das historische Wissen der Kämpfe wieder zum Vorschein, wobei in dem disqualifizierten Wissen „das Gedächtnis der Kämpfe“ ruhte (Foucault 2010: 14). Foucault beschreibt daher das „genealogische Projekt“, dass er seit Jahren in seinen Arbeiten verfolgte, als Anti-Wissenschaften, als Aufstand des Wissens  und dessen Ent-Unterwerfung gegen die zentralisierten Machteffekte des institutionalisierten wissenschaftlichen Diskurses (ebd.: 15)

Neben neuen Machttechniken entstanden im 17. und 18 Jahrhundert auch die staatlichen Orte und Apparate, die den Wissensdurst der Regierung über die Bevölkerung stillen sollen. In der Entstehung der „Policey“ die als ganzheitliche Verwaltungsbehörde konzipiert wurde, konnte dieser Durst nach Wissen und richtiger Führung nachvollzogen werden (vgl. ebd.: 55). Das wahre Objekt der „Policey“ war immer schon der lebendige, arbeitende, wirtschaftende Mensch und das Leben als solches, welches die Regulation der Bevölkerung und deren Erhaltung nach den Kriterien ökonomischer Nützlichkeit umfasst (vgl. ebd.: 57). Etwa zur selben Zeit entstanden Machttechniken, die auf die individuellen Körper gerichtet waren und als Disziplinartechnologien bezeichnet werden können, wie Schulen, Kliniken, Kasernen, Gefängnisse und Fabriken (vgl. Magiros 2007: 113). Ab dem 18. Jahrhundert kamen andere Machttechniken hinzu, die den Mensch als Gattungswesen betrachteten und von Foucault als „Biopolitik der menschlichen Gattung“ und als neue Technologie der Bio-Macht bezeichnet wurden (Foucault 2010: 67). Es ging um die Kontrolle der Geburtenraten und der Fruchtbarkeit einer Bevölkerung, deren demographische Erfassung und die statistische Messung der Todeszahlen.

Kapitalismus und Rassismus

Diese neue Machttechnik hat eine unerlässliche Verbindung mit der Entwicklung des Kapitalismus, „der ohne die kontrollierte Einschaltung der Körper in die Produktionsapparate und ohne die Anpassung der Bevölkerungsphänomene an die ökonomischen Prozesse nicht möglich gewesen wäre“ (Foucault 1977: 136). Die abgestimmte Menschen- und Kapitalakkumulation sowie die Anpassung des Bevölkerungswachstums an die Expansion der Produktivkräfte und den Profit wurden durch die Verfahren der Bio-Macht ermöglicht. Es handelt sich daher um einen Kreislaufprozess in der die Steigerung der Produktivität und der Ressourcen, die Bevölkerungssteigerung möglich machte und die elementaren Bedrohungen, wie die Pest und den Hunger, zumindest in der westlichen Gesellschaft, eliminierte (vgl. ebd.: 137).

Insbesondere die Sexualität übt als „Scharnier“ multiple Effekte auf Familie und Fortpflanzung, auf Körper und Bevölkerung aus, so dass diese disziplinatorische und regulatorische Effekte verbindet und damit zur Keimzelle des Rassismus und zur zentralen Zielscheibe der Macht wird (ebd.:140 ff.). Auch wenn Foucault den Rassismus schon im Kolonialismus verortet, zieht dieser mit der Bio-Macht in die Mechanismen des Staates ein und schreibt sich als grundsätzlicher Mechanismus der Macht ein, wie sie in den modernen Staaten zur Fragmentierung und zum Ausspielen der Bevölkerung eingesetzt wird und bedingt, dass es kaum ein Funktionieren des Staates gibt, das sich nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einer gewissen Grenze und unter bestimmten Bedingungen des Rassismus bedient (vgl. Foucault 2010: 79). Rassismus ist hiernach nicht an Mentalitäten, Ideologien und Lügen der Macht gebunden, sondern vielmehr an die Technologie der Macht. Im souveränen Staat übte der Herrscher sein Recht über Leben und Tod aus indem er sterben machte und am Leben ließ (vgl. Foucault 1977: 132). Aufgrund der beschriebenen Transformationen wird in einem Staat der im Modus der Bio-Macht funktioniert, die Tötungsfunktion des Staates nur noch über den Rassismus gewährleistet, wobei Tötung auch nicht nur den Mord, sondern die Gefahr des Todes, den politischen Tod, die Vertreibung und die Abschiebung nach Foucault umfasst (vgl. Foucault 2010: 81). Das alte Recht sterben zu machen und leben zu lassen, wurde abgelöst von einer Macht, leben zu machen oder in den Tod zu stoßen (vgl. Foucault 1977: 134).

Orte der Kriminalisierung als Widerstandspunkt

Selbst die Taktiken der Macht, die eine Stütze finden, folgen keiner bestimmten Logik, und es kommt vor, „dass niemand sie entworfen hat und kaum jemand hat sie formuliert“ (Foucault 1977: 95). Macht existiert nur aufgrund einer Vielfalt von Widerstandspunkten, die die Rolle von Gegner*innen, vom nicht wegzudenkenden Gegenüber, der anderen Seite, oder von Einfallstoren und Zielscheiben spielen. Die Widerstandspunkte sind immer im Machtnetz präsent, es gibt keine Seele der Revolte, sondern es gibt „einzelne Widerstände: mögliche, notwendige, unwahrscheinliche, spontane, wilde, einsame, abgestimmte, kriecherische, gewalttätige, unversöhnliche, kompromissbereite, interessierte oder opferbereite Widerstände, die nur im strategischen Feld der Machtbeziehungen existieren können“ (ebd.: 96).

Die klassische polizeiliche Aufgabe „nützliches“ Leben zu schützen, gilt nicht für diejenigen die ohnehin als Aussortierte gelten, wie viele Afroamerikaner*innen in den USA. Dort versteht sich die Polizei noch als Disziplinar- und Kontrollmacht gegen die schwarze Bevölkerung (Joseph 2020). Auch der Bezug zur kaum verarbeiteten Geschichte der Sklaverei und der Legitimation polizeilicher Gewalt an der schwarzen Bevölkerung wird von ehemaligen Black-Panther-Aktivist*innen hervorgehoben. Biopolitisch wirkt sich der hauptsächlich auf dem Papier erfolgte Systemwandel immer noch negativ auf die schwarze Bevölkerung aus, die einen schlechteren Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung, eine schlechtere Gesundheitsversorgung und eine höhere Sterblichkeit gegenüber diversen Krankheiten aufweist (vgl. Huggins 2020). In Zeiten von Corona hat sich die gesellschaftliche Transformation beschleunigt, und die Auswirkungen der Pandemie auf die sozial marginalisierten und prekarisierten hat sich nur noch verschärft (Mullis 2020b). Heute ist mehr denn je ersichtlich, dass die Armenviertel der USA, von der Bronx bis Queens, am stärksten von Covid-19 betroffen sind und die Todesraten unter der schwarzen Bevölkerung signifikant höher sind als im Durchschnitt (ebd.). Auch Home-Office ist für die Armen kaum möglich.

Rassismus in den USA und Europa sind nicht zwei verschiedene Angelegenheiten, sondern gehören wie beschrieben, zu einer Technologie der Macht, der in die Mechanismen aller modernen Staaten eingelassen ist. Aufgrund der verschiedenen „kolonialen Geschichten“ in den Ländern kann es zu unterschiedlichen Formationen kommen. In Europa kommt es zu Überschneidungen zwischen muslimischen Communities, Schwarzen, und Rom_nja und zu überlappenden Geschichten im Dreieck Migration, Kolonialismus und Rassismus (vgl. El-Tayeb 2016: 42), wobei die Wahrnehmung von rassifizierten Personen als „ewige Neuankömmlinge“ reproduziert wird (ebd.: 36).

Der Tod von George Floyd hat globale Proteste ausgelöst, die von bürgerlichen Schichten und sehr vielen jungen Menschen getragen wurden. Als Oury Jalloh 2005 oder Amad Ahmad 2018 in ihren Zellen verbrannten, deren Täter schließlich auch Polizisten oder andere Uniformierte waren, reagierte die deutsche Gesellschaft extrem verhalten bis gar nicht auf diese mutmaßlichen Morde. Hinzukommen die Anderen, die der Staat durch rassistische Mechanismen noch in den „Tod stößt“ und der räumlichen „Isolation, Abschiebung, Vertreibung“ aussetzt. Wie Mullis aufzeigt, ist die Ansteckungsgefahr von Menschen die auf engstem Raum zusammen wohnen oder arbeiten müssen, wie in den Geflüchtetenunterkünften, den Fleischfabriken und den Unterkünften der Arbeiter*innen, wie auch für die Bewohner*innen der Randbezirke, viel höher und die Belastungen der Kontaktsperre unweit härter als für die oberen Schichten (Mullis 2020b). Der Covid-19 Ausbruch in mehreren Göttinger Hochhäusern, welche zumeist von Geflüchteten, Migrant*innen und auch von Deutschen bewohnt werden, kam verkleidet in allerlei Fehlinformationen, wie z.B. dass die Zuckerfestfeierlichkeiten nach Ramadan daran schuld sein sollten (vgl. Roma Antidiscrimination Network Göttingen, 04.06.2020). Die soziale Isolation und Stigmatisierung der Menschen in diesen Wohnhäusern hat sich seit dem Ausbruch nur noch vervielfacht. Diese sind nun noch mehr gebrandmarkt und ihr Ansehen in der Stadtgesellschaft, die Chancen der Jugendlichen bei der Jobsuche etc. wird noch mehr abgenommen haben. Die mit Bauzäunen gesicherte Absperrung der Häuser und aller Bewohner*innen hat sich ins kollektive Gedächtnis abgespeichert. Ihr anschließender Protest wurde nur als „Gewalt an Polizist*innen“ abgetan.

Ebenso zieht sich eine Kette von rassistischen Morden in Deutschland seit den 1980er Jahren bis heute ohne Unterbrechung durch. Diese wurde flankiert von einer medial-politischen Skandalisierung der Migration, versteckt unter der dünnen Firnis vordergründiger Aufgeklärtheit und Zivilisiertheit der bürgerlichen Gesellschaft. Im neoliberalen System wird den Migrant*innen der Einschluss versprochen, sofern sie sich ständig beweisen, weder pathologisch noch bedrohlich zu sein. Dabei werden sie effektiv fast immer gegeneinander ausgespielt, während die Mehrheitsgesellschaft die Rolle des Wahrers der Grundrechte einnimmt (vgl. El-Tayeb 2016: 36). Auch der kulturelle Rassismus lebt nicht weniger von biologistischen Mustern, wie es in den Aussagen von Thilo Sarrazin zum Ausdruck kommt, sobald es sich um Roma, Sinti oder Muslime handelt.

Teestuben, Shisha-Bars und die Reproduktion neuer gefährlicher Räume

Ob die alten Gastarbeiter-Teestuben der ersten und zweiten Generation oder die Shisha Bars der dritten. Hanau zeigt, dass die Kriminalisierung und Stigmatisierung von Migrant*innen und ihren Orten, dazu führt, dass Nazis sich zum Mord an bestimmten Gruppen legitimiert fühlen. Ein besonderes Beispiel der Kriminalisierung sind die Polizeirazzien vor der Corona-Pandemie, die in Shisha Bars in NRW die u.a. im März und Juli 2019 stattfanden, wo außer 13 kg unversteuertem Shisha-Tabak kaum etwas gefunden wurde (vgl. WDR 2019). Dass keine Beweise gefunden werden, ist dann aber wie schon zu Zeiten der „Döner-Morde“ nicht ein Beleg für Unschuld, sondern wird vermutlich als Indiz für die Raffinesse der vermeintlichen „Kriminellen“ gedeutet.

Auch die Skandalisierung von sogenannten „arabischen Großfamilien“ erlaubte dem Staat mit Razzien und einer „Null-Toleranz-Strategie“ gegen das Entstehen von „Parallelgesellschaften“ mit „maximalem Kontroll- und Verfolgungsdruck“ vorzugehen und ihre Handlungsfähigkeit zu demonstrieren (Tack/Landesinnenministerium NRW 2018). Obwohl Drogenkonsum in allen Schichten gleich verteilt ist und sich unter Studierenden wie auch unter anderen jungen Menschen einer gewissen Beliebtheit erfreut, werden statt der Universitätsviertel vornehmlich die Viertel der unteren Schichten und der „sozialen Brennpunkte“ polizeilich bearbeitet (Fassin 2018: 136). Migrantisierte und ärmere Bevölkerungsgruppen sind daher besonders betroffen, werden kontrolliert und festgenommen. Ihre Räume erscheinen auch in den Medien als extrem belastet. Die Kränkung durch eine Polizeikontrolle oder Durchsuchung, oder die Mitnahme aufs Revier, vielleicht auch vor bekannten Personen, wird in ihrem repressiv-psychologischen Auswirkungen sehr oft unterschätzt (vgl. ebd.: 138). Das ständige Ausblenden der Vorgeschichten, das Vergessenmachen von Kriminalisierungen und rassistischer Hetze in der Boulevardpresse führte zu einer Brandmarkung der späteren Opfer. Somit wurden sie ebenfalls der „Gefahr des Todes“ ausgesetzt, die sich in Hanau realisiert hat (Foucault 2010: 81).

Es wäre falsch die bürgerliche Empörung an den Räumen migrantischer Männer auszublenden, aus denen dann „zufällig“ immer wieder Orte rassistischer Entladung für rechte Fanatiker werden. Dieser Zusammenhang wurde von verschiedenen Autor*innen schon nach Hanau aufgezeigt und festgestellt, dass sich die Repression immer gegen eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe von jungen männlichen Migranten richtet, wie auch in Neukölln, Marxloh etc. (Wystrychowski 2020). Wen wundert es noch, dass das Magazin Focus dehumanisierend zunächst von „Shisha-Morden“ sprach, wie zuvor auch die Medien bei den NSU-Attentaten von „Döner-Morden“ sprachen (ebd.; Focus vom 20.02.20). Wenige Wochen vor Hanau wurde sogar gemutmaßt, dass „Barber-Shops“ nach den Shisha-Bars, die neuen Rückzugsorte von „Clans“ bilden (Kinast 2020). Rassifizierende Strategien hantieren mit den Bildern von „unzivilisierten Horden, dreckigen Straßen, Kriminalität und Gefahren für Frauen“, denen nur mit mehr Polizei beizukommen ist (Vergès 2019: 10). Während willkürliche polizeiliche Repression legitimiert wird, werden auch neue „gefährliche Orte“ geschaffen. Die Konstruktion von „Kriminellen“ und potentiellen Straftätern und das Schüren der Angst in der Presse ist notwendig damit die Bevölkerung „das polizeiliche Überwachungssystem“ akzeptiert (Foucault 2010: 340). Der Staat zeigt durch Aktionismus auch seine Fürsorge gegenüber den als nützlich angesehenen Bürger*innen.

Wie anfangs erwähnt, besteht in der Diskontinuität der Wahrnehmung des Rassismus und der fehlenden Lernbereitschaft, wie an den Morden des NSU, das größte Problem. Zudem hat das Bundesinnenministerium die Kategorie der „deutschenfeindlichen Straftaten“ in seine offizielle Statistik von 2019 zur „Politisch motivierten Kriminalität“ (PMK) eingeführt und damit einen rechtsextremistischen Kampfbegriff im Staat etabliert (vgl. Laubenstein 2018; Amjahid 2020). Schon im Jahre 2010 hatte die ehemalige CDU-Bundesministerin Kristina Schröder diesen Begriff als Form des Rassismus seitens Migrant*innen an Berliner Schulen dargestellt (ebd.). Dabei wird wieder verkannt, dass Rassismus ein Ausdruck von gesellschaftlichen Machtverhältnissen, Privilegien und Hierarchien ist, die ihren Ausdruck in staatlichen Mechanismen finden. Mit der neuen Kategorie wird von dem eigentlichen Problem des strukturellen Rassismus abgelenkt aber auch negiert, dass die Migrant*innen auch „Deutsche“ sind.

Während die Keupstraße in Köln seit 2016 auf einen Gedenk- und Lernort gegen Rassismus wartet, soll Erinnerungsarbeit für die Taten des NSU 2001 und 2004, und die der Polizei während der Ermittlungen, am besten unter den Tisch gekehrt werden. Ein Stadtratsbeschluss von 2015 zur Errichtung eines „Mahnmals“, wurde aufgrund entgegenstehender Interessen der Privateigentümer des anvisierten Geländes bisher nicht verwirklicht (vgl. Preugschat 2020). Auch der seit 30 Jahren amtierende Bezirksbürgermeister Köln-Mülheims (SPD) wehrt sich gegen die Errichtung des Mahnmals und eines dazugehörigen Platzes an der Straße, die er zuvor mehrfach schon als Parallelgesellschaft bezeichnet hatte (vgl. Wördenweber 2008). Die Geschäftsinhaber*innen beschweren sich schon seit Jahren, dass die Straße trotz 118 Geschäften nicht genügend gereinigt wird und Papierkörbe fehlen (Eigene Interviews aus der Feldforschung). Die Zeiten des Corona-Lockdowns hat die Ladenbesitzer*innen, wie viele andere Geschäftsinhaber*innen, in eine finanzielle Krise geführt und ihre Lage nur noch verschärft.

Die Frage besteht weiter: Wer wird gehört?

Am Jahrestag des Mordes an dem Kasseler Regierungspräsidenten, Walter Lübcke, im Jahr 2020 wurde vom „Erstarken des Rechtsextremismus“ gesprochen. Hätte man aus dem NSU gelernt und das rechtsterroristische Täter*innennetzwerk nicht auf ein Trio plus einige wenige Helfer*innen reduziert, hätten die rassistischen Mörder*innen sich nicht für weitere Morde ermutigt gefühlt. Ebenfalls hat die Devise des „Quellen- und Staatswohlschutzes“ das Weiterermitteln gegen ehemalige V-Mann-Führer, wie Andreas Temme, verhindert, der bei der Ermordung von Halit Yozgat am Tatort anwesend war. Zudem hat Temme zehn Jahre lang, nach seiner Versetzung vom Verfassungsschutz, im Kasseler Regierungspräsidium gearbeitet (vgl. Staib 2019). Bei der Erteilung der Waffenbesitzkarte für den mit Beihilfe am Mord angeklagten Markus H. soll der hessische Verfassungsschutz sein Wissen der Waffenbehörde gegenüber verschwiegen haben (Feldmann et al. 2020). Interessanterweise wird in dem Artikel wieder nur von Versagen und Pannen bei den Verfassungsschutzämtern gesprochen.

Trotz mehrerer schwerer Straftaten, von Brandstiftung bis einem Rohrbombenanschlag gegen Geflüchtete, bekam der Mörder von Walter Lübcke, Stephan E., nach einem Mordversuch im Jahre 1992 an einem islamischen Geistlichen wegen seelischer Abartigkeit und einer Borderline-Persönlichkeitsstörung damals nur 6 Jahre Haft aufgrund versuchtem Totschlags (vgl. Frontal 21: 2020).

„Nach den vielen warmen Worten von Politikern und dem großen Medienrummel nach dem Anschlag ist Hanau bei vielen schnell in Vergessenheit geraten. Jetzt, wo die Kameras weg sind, soll scheinbar wieder der ganz normale Umgang von Polizei, Ermittlungsbehörden und Verfassungsschutz stattfinden: Vertuschen und Verharmlosen. Wir bekommen vom BKA die ersten Häppchen für die Einzeltäter-These vorgelegt. Jetzt müssen wir alle wachsam sein und die offenkundig rassistische, rechtsextreme Tat weiter als das benennen, was sie war: Rechter Terror, der offensichtlich – wie auch beim NSU – zu den Akten gelegt werden soll.“ (Initiative 19. Februar Hanau, Presseerklärung vom 28.03.2020)

Dass Deutschland ein Problem mit rechtem Terror, Rassismus und Rechtsextremismus hat und das psychische Störung sowie Nazieigenschaft sich nicht ausschließen, sollte alsbald verstanden werden (Initiative 19. Februar Hanau 2020). Rassistische Täter sind nie Einzeltäter, auch wenn sie manchmal auch psychisch krank sein mögen.

Schluss

Im Wissen der Unterworfenen ruht das Gedächtnis der Kämpfe „und wie der Staat auf der institutionellen Integration von Machtbeziehungen beruht, so kann die strategische Codierung der Widerstandspunkte zur Revolution führen“ (Foucault 1977: 97). Ich möchte den Artikel optimistisch beenden und auf die poetische Rede vom Vater von Amad Ahmad, Zaher Ahmad, in Köln zum 16. Jahrestag des NSU-Anschlags am 09.06.2020 auf der Keupstraße verweisen. Es ist ein schönes Beispiel, wie im „Wissen der Leute“ über die Macht auch die Möglichkeit des Widerstandes aufgezeigt wird:

„Zuerst möchte ich sagen, ich bin der Vater von Amad. Aber ich bin nicht der einzige Vater von Amad und er ist nicht nur mein Sohn. Ihr seid alle die Väter von Amad, ihr seid alle die Geschwister von Amad und die Mütter von Amad. Der Mensch ist wie der Frühling, wie jede einzelne Farbe die der Frühling trägt, so wird auch der Mensch schöner mit jeder Farbe, die er bei sich trägt. Ob Kurde, Araber, Deutscher oder Sudanese, egal wer zusammenkommt, alle sind nur Menschen. Weil wir Menschen sind und aus Menschlichkeit handeln, werden wir dafür sorgen, dass die Menschlichkeit siegt. Lasst uns alle zusammen die Hände reichen, lasst uns eine Farbe werden, lasst uns eine Stimme werden und alle zusammen werden wir eins und den Rassismus besiegen. Wir sehen wie der Rassismus in den USA gegen die schwarze Bevölkerung, wir sehen wie hier in Deutschland gegen die Menschlichkeit gekämpft wird. Wir sehen am Beispiel von Amad, auch wenn er gestorben ist, es Hundert ähnliche Fälle gibt, und das sobald einer gestorben ist, es nicht einfach aufhört, sondern dass wir uns für die anderen einsetzen müssen, wie am Beispiel von Amad. So wie wir alle hier sind, werden wir, hoffentlich nicht, aber irgendwann versterben, dann werden wir…zu einem Symbol des Frühlings werden und wir werden mit dem Frühling den Rassismus besiegen….“

                         (Transkribiert aus der Übersetzung vom Tag der Rede am 09.06.2020)

Literatur:

Amjahid, Mohamed (2020): Die neue Deutschenfeindlichkeit. In: SPON vom 07.06.2020. https://www.spiegel.de/politik/deutschland/kriminalitaet-deutschfeindliche-straftaten-was-steckt-dahinter-a-541ae885-7724-4df6-b128-c03a5e37e069

Bojadžijev, Manuela (2018): Konjunkturen der Rassismustheorie in Deutschland. In: Foroutan, Naika et al. (Hg.): Das Phantom „Rasse“. Zur Geschichte und Wirkungsmacht von Rassismus. S. 47-62. Böhlau Verlag.

El-Tayeb, Fatima (2016): Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft. Transcript.

Feldmann, Julian; Seidel, Nino; Bongen, Robert (2020): Erkenntnisse verschwiegen. Verfassungsschutzpanne im Fall Lübcke. Vom 11.06.2020. Abgerufen am 16.06.2020 auf https://www.tagesschau.de/investigativ/panorama/luebcke-verfassungsschutz-markus-h-101.html

Fassin, Didier (2018): Der Wille zum Strafen. Suhrkamp Verlag.

Foucault, Michel (1977): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft.

Foucault, Michel (2010): Kritik des Regierens. Schriften zur Politik. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft.

Gebauer, Matthis (2020): Rechtsextremismus bei der Bundeswehr. KSK-Hauptmann schickt Hilferuf an Kramp-Karrenbauer. Spiegel Online vom 12.06.2020. Abgerufen am 16.06.2020. https://www.spiegel.de/politik/deutschland/bundeswehr-kommando-spezialkraefte-hauptmann-schickt-hilferuf-an-kramp-karrenbauer-a-17a4b656-bedb-4539-a948-e179708027b9

Haraway, Donna (2001): Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive. In: Hark, Sabine (Hg.): Dis/Kontinuitäten: Feministische Theorie. S. 281-298. Leske+Budrich.

Huggins, Ericka (2020): Interview mit Black-Panther-Veteranin Ericka Huggins. Rassismus ist ein aggressives Virus. SPON vom 16.06.2020. Abgerufen am 16.06.2020.

Initiative 19. Februar Hanau (2020): Deutschland hat ein Rassismus-Problem. Presseerklärung vom 28.03.2020. https://19feb-hanau.org/2020/03/28/deutschland-hat-ein-rassismus-problem/

Joseph, Jamal (2020): Polizeigewalt in den USA: „Du musst als Afroamerikaner immer auf der Hut sein“. Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 04.06.2020, abgerufen am 11.06.2020.

Kinast, Juliane (2020): Kampf gegen Clankriminalität. Sind Barbershops die neuen Shishabars? Westdeutsche Zeitung vom 3. Februar 2020.

Laubenstein, Sina (2018): „Deutschenfeindlichkeit“ – zwischen rechtem Kampfbegriff & gesellschaftlicher Herausforderung. Artikel vom 14.03.2018. In: Bundeszentrale für politische Bildung.https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/266333/zwischen-kampfbegriff-herausforderung

Magiros, Angelika (2007): Foucaults Beitrag zur Sozialen Arbeit gegen Rassismus. In: Anhorn, Roland et al. (Hg.): Foucaults Machtanalytik und Soziale Arbeit. Eine kritische Einführung und Bestandsaufnahme. S. 109-118. VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Mullis Daniel (2020a): Von Thüringen nach Hanau und zurück. Artikel vom 26. Februar 2020. https://blog.prif.org/2020/02/26/von-thueringen-nach-hanau-und-zurueck/

Mullis, Daniel (2020b): Mit der Corona-Krise in eine autoritär-individualistische Zukunft? Fünf Dimensionen gesellschaftlicher Transformation. Artikel vom 21. April 2020. https://blog.prif.org/2020/04/21/mit-der-corona-krise-in-eine-autoritaer-individualistische-zukunft-fuenf-dimensionen-gesellschaftlicher-transformation/

Preugschat, Karin (2020): Keupstraße ohne Mahnmal – seit 16 Jahren. Gut Köln.

Roma Antidiscrimination Network (2020): Hetze wegen Corona in Göttingen breitet sich aus. Artikel vom 04.06.2020, Online abgerufen am 11.06.2020.

Staib, Julian (2019): Mordfall Lübcke und NSU. Immer wieder Temme. In: Faz vom 18.10.2019.

Tack, Jochen/Landesinnenministerium NRW (2018): Polizei und Ordnungsbehörden sagen Clankriminalität den Kampf an. https://polizei.nrw/artikel/polizei-und-ordnungsbehoerden-sagen-clankriminalitaet-den-kampf-an.

Terkessidis, Mark (2018): Rassismus definieren (1998/2017). In: Foroutan, Naika et al. (Hg.): Das Phantom „Rasse“. Zur Geschichte und Wirkungsmacht von Rassismus. S. 65-82. Böhlau Verlag.

Vergès, Francoise (2019): Capitalocene, Waste, Race, and Gender. In: e–flux journal #100 – may 2019, 1 – 13.

Wördenweber, Jan (2008): Multikulti ist gescheitert. Kölnische Rundschau vom 07.03.2008.

Wystrychowski, Leon (2020): RASSISMUS Vor der Corona-Pandemie: Die Clan-Hysterie. In: migazin vom 01.04.2020.

 

Quellen:

Focus vom 20.02.20. Elf Tote nach Schüssen Hanau unter Schock: Erste Bilder nach Bluttat. https://www.focus.de/panorama/welt/elf-tote-nach-schuessen-hanau-unter-schock-erste-bilder-nach-bluttat_id_11684150.html

Frontal 21, Fernsehsendung ZDF vom 02.06.2020 – Youtube, abgerufen am 03.06.2020.

WDR Online (2019): Kriminelle Clans: Polizei durchsucht Shisha-Bars. https://www1.wdr.de/nachrichten/rheinland/shisha-bar-razzia-108.html

[1] Mein Dank gilt Svenja Schurade, Darius Reinhardt und Daniel Mullis für die wichtigen Kommentare und Korrekturen.

[2] Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nessar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Gabriele Rathjen, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov – https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/saytheirnames-55215/